Sonderfall Biotherapeutika und warum seltene Erkrankungen gar nicht so selten sind

An einer seltenen Erkrankung leiden laut Definition weniger als fünf von 10.000 Menschen. Diese Erkrankungen sind häufig genetisch bedingt und verlaufen chronisch oder sogar tödlich. Viele der Patientinnen und Patienten haben bereits einen langen Leidensweg hinter sich, bevor sie die richtige Diagnose erhalten.

Fehlendes Bewusstsein führt zu diagnostischer Lücke

An einer seltenen Erkrankung leiden laut Definition weniger als fünf von 10.000 Menschen. Diese Erkrankungen sind häufig genetisch bedingt und verlaufen chronisch oder sogar tödlich. Weltweit sind etwa 7.000 bis 8.000 seltene Krankheiten erfasst, was in der Gesamtheit für Deutschland bedeutet, dass rund vier Millionen Menschen betroffen sind. Viele der Patientinnen und Patienten haben bereits einen langen Leidensweg hinter sich, bevor sie die richtige Diagnose erhalten. Warum das so ist, erklärte Dr. Harald Terpe aus Rostock beim "Forum Seltene Erkrankungen. Sonderfall Biotherapeutika?!" am 06. November 2018 in Berlin.

Primärer Immundefekt vs. Diabetes mellitus

In seinem Vortrag nimmt Terpe einer Gegenüberstellung vor: Er vergleicht einen primären Immundefekt (z.B. CVID) mit einem Typ 1 Diabetes. Bei diesem Vergleich geht es vor allem darum, Fragen der Häufigkeit und der (fach-) öffentlichen Aufmerksamkeit mit der diagnostischen Lücke in Verbindung zu bringen und in einem weiteren Schritt um die Plasmaproteintherapie als biotherapeutischen Sonderfall.

CVID tritt sehr selten auf. Es ist eine der rund 8.000 seltenen Erkrankungen weltweit und betrifft eine von 25.000 Personen. Vom Diabetes Typ 1 hingegen ist eine Person aus 320 betroffen, betrachtet man die Gesamtheit der Diabetes-Erkrankungen, so leidet eine von fünfzehn an Diabetes erkrankten Personen am Typ 1 Diabetes. Es handelt sich dabei also um eine klassische Volkskrankheit. Ein Diabetes wird sicher erkannt, die Betroffenen erhalten in den allermeisten Fällen sofort die richtige Diagnose. CVID-Patientinnen und -Patienten müssen im Durchschnitt sechs bis sieben Jahre auf die korrekte Diagnose warten - manche Fallbeispiele im Internet berichten sogar von Betroffenen, die eine fünfzehn bis zwanzig Jahre lange Leidensgeschichte hinter sich haben, bevor ihre Erkrankung erkannt wurde – dies trotz einer oft gleich verlaufenden Symptomatik, wie beispielsweise häufige oder immer wiederkehrende Infektionen.

Wie kommt es zur diagnostischen Lücke?

Terpe bezieht sich auf einen Standardsatz, der bereits zu seinen Studienzeiten zitiert wurde und auch heute immer noch kursiert: "Häufige Krankheiten sind häufig, seltene Krankheiten sind selten." Mit dieser Aussage wird schon früh unter den Studierenden die Aufmerksamkeit von den seltenen Erkrankungen weg und hin zu den Volkskrankheiten gelenkt. Es fehlt nicht nur in der breiten Öffentlichkeit an einem Bewusstsein für seltene Krankheiten, sondern durch frühe Vernachlässigung des Themas und mangelnde Beschäftigung mit diesen im Vergleich zu den Volkskrankheiten scheinbar nicht besonders relevanten Erkrankungen, fehlt es auch an einer kompetenten Fachöffentlichkeit. Einer ethischen Überprüfung hält diese Haltung jedoch nicht stand: Sieht man sich die Zahlen an, ist ungefähr eine Person von sechs Millionen von Diabetes Typ 1 betroffen. Da es sich bei den seltenen Erkrankungen um eine heterogene Gruppe handelt, die zum Teil sehr spezifische Krankheiten zusammenfasst, ist allerdings auch hier ungefähr eine Person von vier bis sechs Millionen betroffen. So groß sind die Unterschiede in der Häufigkeit also gar nicht, wenn man die von seltenen Erkrankungen betroffenen Personen als Gruppe betrachtet.

Plasmaproteintherapie als biotherapeutischer Sonderfall

Relevante Unterschiede gibt es jedoch in puncto Bereitstellung der jeweiligen Therapieformen. Für primär immundefekte Patientinnen und Patienten wird eine Immunglobulintherapie benötigt, die bis auf wenige Ausnahmen nicht gentechnisch hergestellt werden kann, sondern aus humanem Plasma gewonnen wird. Das bedeutet, dass Personen mit einem primären Immundefekt auf die Spendebereitschaft der Menschen angewiesen sind, um geeignete Therapien erhalten zu können. Um die Spendebereitschaft zu erhöhen, müssen die Bedingungen für Plasmaspenden überdacht und optimiert werden.

Erschwerend hinzu kommt, dass auf Grund regionaler Unterschiede der "Immunglobulincocktail" ganz bestimmte Antikörper enthalten und damit auf die großregionalen Bedarfe der Patienten abgestimmt sein muss. Plasma, das z.B. aus Indonesien oder auch Nordamerika importiert wird, kann nicht unbedingt eine adäquate Therapie gewährleisten. Für den deutschen Raum ist daher mittel- oder westeuropäisches Plasma besonders wichtig.

Für die Insulintherapie eines Diabetes mellitus Typ 1 wird zwar ebenso ein körperähnlicher Wirkstoff benötigt, jedoch erfolgt die Therapie mittels recombinanter Proteine - also gentechnisch hergestellter Biologika.

Sowohl Immunglobulin- als auch Insulintherapie sind Therapien des Bestandsmarktes. Unterschiede gibt es allerdings nicht nur bei den Herstellungs-, sondern auch bei den Kontroll- und Zulassungswegen. Für die Zulassung und Kontrolle der Immunglobulintherapie ist das Paul Ehrlich Institut zuständig, für die Insulintherapie das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Eine Führung auf dem Bestandsmarkt kann im Fall der Immunglobulintherapie durchaus nachteilig sein, da im heutigen wettbewerblichen System der Arzneimittelbereitstellung Möglichkeiten der Innovation und des Zusatznutzens nach AMNOG – anders als bei den gentechnisch produzierten Biotherapeutika – schwer in Ansatz gebracht werden können. Auch sind Plasmapräparate in der Regel keine Orphan Drugs, da sie auch für die Therapie nicht seltener Erkrankungen genutzt werden.

Was getan werden muss

Die Seltenheit der einzelnen Erkrankungen und die Einzigartigkeit des komplexen Rohstoffs Plasma stellen das Gesundheitssystem vor Herausforderungen: Hier zeigt sich die Notwendigkeit, den Diskurs unter den Akteuren im Gesundheitswesen zu fördern, Handlungsoptionen zu diskutieren und nicht zuletzt Wegmarken für den diagnostischen Irrgarten zu setzen, um die diagnostische Lücke zu schließen und den Leidensweg der Betroffenen zu verkürzen.

Quelle:
Forum Seltene Erkrankungen. Sonderfall Biotherapeutika?!, Vortrag Dr. Harald Terpe, 06. November 2018, Berlin
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