Umgang mit Neurologen aus der Zeit des Nationalsozialismus

Unklare Lebenswege von Neurologen im Nationalsozialismus: Wer war ein Nazi und wie eng war Klaus-Joachim Zülke mit der NS-Ideologie verbunden – das waren Themen der Sitzung "Neurologie in der NS-Zeit" auf dem Neurologenkongress in Stuttgart.

Who was a nazi? Nicht so leicht zu beantworten

Unklare Lebenswege von Neurologen im Nationalsozialismus: Wer war ein Nazi und wie eng war Klaus-Joachim Zülke mit der NS-Ideologie verbunden – das waren Themen der Sitzung "Neurologie in der NS-Zeit" auf dem Neurologenkongress in Stuttgart. Die Sitzung mit Prof. Dr. Axel Karenberg, Köln, Prof. Heiner Facherau, Düsseldorf, Dr. Michael Martin und Prof. Dr. Martin Grond ist seit 2016 in Folge die vierte, die sich mit der Aufarbeitung der Neurologie im Nationalsozialismus beschäftigt.

Wer war ein Nazi? Das war, so Facherau, schon 1939 alles andere als leicht zu beantworten, wie Sebastian Haffner in "Germany, Jekyll & Hyde" schrieb: "Wer ist ein Nazi? Woran erkennt man ihn? Sicherlich nicht daran, dass er eine Hakenkreuzfahne aus dem Fenster hängt. Heute tut das jeder in Deutschland. Es bedeutet nichts. Es ist auch nicht daran erkennbar, dass er Mitglied irgendeiner NS-Gliederung oder der Partei ist. Die "wirklichen Nazis" lassen sich demnach nicht so leicht identifizieren." Steuwer und Leßau lieferten 2014 folgende Definition:

"Vor allem muss Aufklärung über das Geschehene einem Vergessen entgegen arbeiten", schrieb Theodor W. Adorno 1959. Und der Medizinhistoriker Richard Toellner konstatierte 1989: "Die Ärzte im Dritten Reich haben uns eine schwere Last hinterlassen für jetzt und in alle Zukunft. Erinnern wir uns dieser Last. Lernen wir sie kennen, lernen wir sie wirklich kennen. Anerkennen wir diese Last, lassen wir sie uns eine Lehre sein. Versuchen wir nicht, diese Last abzuschütteln, denn mit der Last geht die Lehre verloren. Nehmen wir sie auf. Die Last ist die Lehre".

Belastet? Unbelastet? Ein Mediziner mit zwei Lebensläufen…

Wie unklar der Lebensweg von Neurowissenschaftler Prof. Dr. Klaus-Joachim Zülch, Vorsitzender (1961/62), Ehrenmitglied (seit 1978) und Ehrenvorsitzender (seit 1984) der DGN verlief, zeigte Dr. Martin auf. Zülch (geboren am 11. April 1910 in Allenstein, gestorben am 2. Dezember 1988 in Berlin) lieferte wichtige Beiträgen zur Neurologie, Neuropathologie, Neurophysiologie und Neuroradiologie.

Sein Studium der Medizin an den Universitäten Marburg, Rostock, Wien, Berlin und Heidelberg beendete er in Berlin mit der ärztlichen Staatsprüfung. Während der Medizinalassistentenzeit 1935 bis 1936 arbeitete er bei Otfrid Foerster in Breslau und promovierte zum Thema Hirnatrophie. Ab 1936 arbeitete Zülch für Georg Schaltenbrand in Würzburg. 1937 betraute ihn Wilhelm Tönnis in Berlin-Buch mit der Einrichtung der Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Neuropathologie. Zülch war 1939 bis 1945 Truppenarzt, Abteilungsarzt von Lazarett-Fachabteilungen für Hirnverletzte, er arbeitete im Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch wissenschaftlich und habilitierte sich 1940 an der Berliner Universität.

1946 setzte er seine Karriere am MPI für Hirnforschung in Bochum-Langendreer fort, hatte 1947 bei Heinrich Pette eine Gastprofessur an der Neurologischen Klinik am UKE inne, 1948 ließ er sich als Nervenarzt in Hamburg nieder. 1951 wurde er Leiter der Abteilung für allgemeine Neurologie des MPI für Hirnforschung in Köln, 1959 Chefarzt der Neurologischen Abteilung im Städtischen Krankenhaus Köln-Merheim und Direktor der Abteilung Allgemeine Neurologie des MPI für Hirnforschung in Köln.

Mitgliedschaft in der SA fehlt im Lebenslauf

Seinem 1952 abgefassten Lebenslauf fehlen allerdings die Angaben, die er 1946 in einem Fragebogen des Military Government of Germany machte. Dort gab er an, Mitglied in der NSdAP gewesen zu sein, Mitglied der SA (1933 bis 1939), als Sanitäts-Oberscharführer (1936-39), Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (1937-39).

Nach dem "Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" (5. März 1946) und der Einrichtung von "Spruchkammern" gab es Entnazifizierungsverfahren mit den Kategorien: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Aufgrund seiner Angaben im Fragebogen 1946 wurde gegen Zülch ein Entnazifizierungsverfahren in Hamburg eingeleitet.

In seiner eidesstattlichen Erklärung (24. April 1947) schreibt Zülch: "Ich gebe zu, dass ich aus Überzeugung in die SA eingetreten bin, weil ich mir von dem sozialistischen Programm der NSdAP etwas versprach. …Da ich als Mediziner in der SA für ärztliche Zwecke in Anspruch genommen wurde, beförderte man mich. … In Berlin habe ich mich um die SA überhaupt nicht mehr gekümmert. Nur formal habe ich im Jahr einige Jahre Dienst gemacht…Im Jahr 1937 wurde ich Anwärter der NSdAP und zwar zwangsweise, weil ich in der SA war….Ich hatte sehr viele Beziehungen zu Ausländern, was zur Folge hatte, dass ich die großen Fehler des nationalsozialistischen Systems immer mehr erkannte."

Seine Anwälte teilten in der Berufung gegen das Entnazifizierungsverfahren mit, dass die "formelle Belastung nur als sehr gering bezeichnet werden kann". Im Übrigen habe er als Student irgendeiner NS-Organisation beitreten müssen, weil er sonst bei Examen usw. auf Schwierigkeiten gestoßen wäre. Und tatsächlich urteilt der Berufungsausschuss (18. Februar 1948) wie folgt: "Zu seinen Gunsten ist zu berücksichtigen, dass er in der Zeit von 1932 bis August 1933 als Student im Austauschwege in England und über die politische Entwicklung in Deutschland nicht genau unterrichtet war."

In Zülchs Lebenslauf aus 1938 liest sich das dann doch etwas anders: "Nach der Machtübernahme – während deren ich als Student in England war – bin ich der SA beigetreten und habe auch in England, soweit es damals möglich war, mich aktiv (Vorträge) für Deutschland eingesetzt." Zülch weiter: "…für einige Monate auf die SA-Schule Zossen gegangen. Nach meiner Rückkehr habe ich dann in meinem örtlichen Sturm über ein Jahr als militärischer Ausbilder gewirkt, zeitweilig habe ich daneben auch einen Trupp geführt. 1933 wurde ich zum Scharführer, 1935 zum Oberscharführer befördert, z. Zeit gehöre ich dem örtlichen Bucher Sturm ¾ an. Am 1. Mai trat ich über die SA in die NSdAP ein."

Schlussstrich-Mentalität in den 50er und 60er Jahren

In den 50er und 60er Jahren habe eine Schlussstrich-Mentalität geherrscht, betont Karenberg. Das spiegele sich auch bei den DGN-Vorsitzenden, Ehrenvorsitzenden und Ehrenmitgliedern wider. Einige weisen als "formale" NS-Belastung eine SA-Mitgliedschaft, eine NSdAP-Mitgliedschaft oder eine SS-Mitgliedschaft auf. Von den Ehrenpräsidenten der DGN und ihrer Vorläuferorganisationen wiesen diverse Neurologen eine NS-Belastung auf. Max Nonne etwa befürwortete die Euthanasie, Otfrid Foerster pflegte eine NS-Rhetorik, Heinrich Pette trat 1933 der NSdAP bei und fungierte als EGOG-Gutachter. Georg Schaltenbrand trat 1937 in die NSdAP ein und führte Humanexperimente an schizophrenen und dementen PatientInnen und an TumorpatientInnen durch. Gustav Bodechtel trat 1933 in die SA und 1937 in die NSdAP ein, Helmut J. Bauer 1941 in die SS und Zülch 1933 in die SA und 1937 in die NSdAP.

Was tun? Geplant ist, die Vorsitzenden-und Ehrenmitglieder-Tableaus zu erhalten und mit Biographien und Infos zum Kontext zu verlinken. Überlegt wird noch, ob bei Preisen und Lectures auf die Eigennamen derjenigen verzichtet werden soll, die NS-Belastungen aufweisen.

Referenzen:
Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Kongresszentrum Stuttgart ICS 2019