Verdacht auf frühere Medikamenten-Tests in hessischen Kinderheimen

Eine Forschungsarbeit hat mögliche Medikamenten-Test an Heimkindern aufgedeckt. Auch in Hessen soll es Fälle gegeben haben. Unternehmen berufen sich auf unklare Gesetzeslage. Nach Recherchen einer Forscherin besteht der Verdacht, dass vor Jahrzehnten in einem nordhessischen Heim Medikamente an Kindern getestet wurden.

Eine Forschungsarbeit hat mögliche Medikamenten-Test an Heimkindern aufgedeckt. Auch in Hessen soll es Fälle gegeben haben. Unternehmen berufen sich auf unklare Gesetzeslage.

Nach Recherchen einer Forscherin besteht der Verdacht, dass vor Jahrzehnten in einem nordhessischen Heim Medikamente an Kindern getestet wurden. Dabei handelt es sich um eine Einrichtung der evangelischen Hephata Diakonie in Treysa (Schwalm-Eder-Kreis). In einer Liste im Anhang eines Aufsatzes zu Arzneimittelstudien an Kindern führt die Pharmazeutin Sylvia Wagner unter anderem das Neuroleptikum Decentan sowie Hephata in Treysa auf. Zuvor hatte die “Frankfurter Rundschau” darüber berichtet. Der Hessischen Rundfunk (hr) berichtete zudem am Dienstag, Tests an Kindern habe es auch in zwei Heimen in Marburg gegeben.

Wie der Sprecher der Hephata Diakonie, Johannes Fuhr, am Dienstag mitteilte, hat Wagner einen Brief im Archiv des Pharmaunternehmens Merck entdeckt. Er bestätigt die Lieferung des seinerzeit noch nicht zugelassenen Medikaments Decentan 1957 an das Heim in Treysa. Empfängerin ist Fuhr zufolge eine damals bei Hephata tätige Ärztin.

Fuhr sagte, die Hephata Diakonie bemühe sich bereits seit 2009 um die Aufarbeitung der Heimkinder-Erziehung in den 1950er bis 1970er Jahren. Hinweise auf mögliche Medikamenten-Tests hätten sich aus den hauseigenen Akten und Nachforschungen bisher nicht ergeben. “Wir stehen mit der Forscherin und Merck in Kontakt und unterstützen die Aufarbeitung”, sagte er. Die Diakonie wolle nun noch einmal Zeitzeugen ansprechen, um weitere Erkenntnisse zu gewinnen.

Für ihre Dissertation hatte Wagner Archive sowie historische Fachzeitschriften ausgewertet. Sie fand Belege für bundesweit etwa 50 Versuchsreihen mit verschiedenen Medikamenten und Impfstoffen unterschiedlicher Hersteller. Ein Sprecher des Pharmaunternehmens sagte, Merck habe nicht rechtswidrig gehandelt. Die Frage nach Wiedergutmachung stelle sich daher nicht. “Sollten sich Dritte nicht entsprechend der Gesetzeslage verhalten haben, bedauern wir das selbstverständlich”, erklärte das Unternehmen.

Vorschrift Medikamententests anzumelden fehlte

Eine Sprecherin des hessischen Sozialministerium erklärte: “Wie auch aus der Veröffentlichung von Frau Wagner hervorgeht, gab es damals keine gesetzlichen Vorschriften, Medikamententests bei einer zuständigen Bundesoberbehörde anzumelden.” Außerdem unterlagen die Tests noch nicht der behördlichen Überwachung durch die zuständige Landesbehörde. “Das erklärt, warum wir hierzu keine Informationen aus dieser Zeit vorliegen haben.”

Nach Recherchen von hr-info und dem hr-Fernsehen könnten auch zwei Heime in Marburg betroffen sein. Laut einer Arzneimittelstudie aus dem Jahr 1963, die dem hr vorliege, sei dort an 30 Kindern ein Impfstoff gegen Kinderlähmung getestet worden. Die Heimkinder seien zwischen sechs Monaten und elf Jahren alt gewesen.

Nach Berichten des ARD-Magazins “Fakt” und des WDR war bekannt geworden, dass an Essener Heimkindern Ende der 50er Jahre Decentan getestet worden sein soll – mit Folgen wie Schrei- und Blickkrämpfen oder psychischen Veränderungen, vermutlich durch Überdosierungen. Unter anderem die Bodelschwinghschen-Anstalten Bethel in Bielefeld sollen beteiligt gewesen sein.