Virtuelle Patientenbehandlung im Medizinstudium

Die Pandemiesituation hat den praktischen Unterricht im Medizinstudium stark eingeschränkt. Eine Alternative soll nun eine interaktive Lernsoftware bieten, die fallbasierte Behandlungen an virtuellen Patient:innen ermöglicht.

Studierende sammeln praktische Erfahrung an 200 virtuellen Patient:innen 

Weltweit sind Universitäten durch die Covid-19-Pandemie gezwungen, ihre Lehren auf digitale Formate umzustellen. In der humanmedizinischen Ausbildung bedeutet dies, dass praktischer Unterricht an Patientinnen und Patienten nur noch sehr eingeschränkt möglich ist. In der Folge ist die Nachfrage nach virtuellen Patientinnen und Patienten gestiegen. Die Medizinische Fakultät der Universität Augsburg entwickelt nun gemeinsam mit europäischen Partnern eine Sammlung von 200 virtuellen Patient:innen.

Das Interesse von Lehrenden und Studierenden der Medizin an virtuellen Patienten (VP) ist hoch. Das sind interaktive fallbasierte Lernaktivitäten, mit deren Hilfe Studierende einüben, wie sie später richtige Entscheidungen bei Diagnose und Behandlung treffen. Das ist nicht nur in der jetzigen Pandemiesituation wertvoll.

"Ein großer Vorteil der virtuellen Patienten ist, dass sie einen geschützten Rahmen bieten, in dem auch Fehler erlaubt sind und niemand gefährdet werden kann", erklärt PD Dr. Inga Hege der Universität Augsburg. Die Medizindidaktikerin und Informatikerin leitet das Projekt iCoViP (International Collection of Virtual Patients - Digitized Education in Europe beyond the pandemic). Die Ausführung von Lernsoftware sei sehr unterschiedlich und reiche von interaktiven Szenarien über virtuelle Welten mit Avataren bis hin zu Simulationen mit speziellen Simulationsgeräten - allen gemeinsam sei das realistische Setting, in dem die Studierenden eine aktive Rolle übernähmen.

Es gilt klinische Entscheidungskompetenz zu üben

"In unserem Projekt konzentrieren wir uns darauf, interaktive Szenarien zu entwerfen. Wir entwickeln Fallbeschreibungen fiktiver Patienten, die durch Untersuchungsbefunde wie Röntgenbilder und ähnliches sehr realistisch gestaltet sind. Die Studierenden müssen sich dann zwischen verschiedenen Diagnose- und Behandlungsformen entscheiden", erklärte Hege.

Anhand dieser interaktiven Szenarien, die online zur Verfügung stehen, können die Studierenden selbstständig das "clinical reasoning" - also die klinische Entscheidungsfindung - üben. Klinische Entscheidungskompetenz nennt man das komplexe Set von Fähigkeiten und Fertigkeiten, das es braucht, um im klinischen Alltag eine Diagnose zu erstellen und einen Therapieplan für und mit Patient:innen zu entwickeln. Bei erfahrenen Ärztinnen und Ärzten laufen diese Entscheidungsprozesse teils automatisch ab, Studierende jedoch profitieren davon, sie systematisch und bewusst zu durchlaufen. Die Lernsoftware CASUS, mit der sie üben, ermöglicht auch ein Visualisieren der Diagnoseschritte.

Virtuelle Fallbehandlung: Der Patient Alan Britten

Die verwendeten Fallbeispiele sind dabei so detailliert und realistisch als wären es echte Menschen: Der 62-jährige Alan Britten, ehemaliger Raucher, kommt in eine Klinik, um einen blutigen Husten abklären zu lassen. Dort wird eine ausführliche Anamnese erhoben, eine körperliche Untersuchung wird vorgenommen, Laborwerte werden eingeholt und die Lunge geröntgt. Alle diese Informationen erhalten die Medizinstudierenden in der interaktiven Lernsoftware, einschließlich eines Fotos von Herrn Britten im Krankenbett. Nun gilt es, auf der Grundlage eines ersten Befundes weitere Untersuchungen vorzunehmen und eine Diagnose zu stellen - in diesem Fall lautet die richtige Diagnose, zu der die Übenden über mehrere Schritte gelangen müssen: ein inoperables Bronchial-Karzinom mit Metastasen in Lunge und Skelett. Die einzige Therapie, welche die Studierenden vorschlagen können: eine palliative Chemotherapie.

"Der Patient Britten ist virtuell, aber der Fall und das zur Verfügung gestellte Material sind sehr realistisch, wir verwenden beispielsweise echte, anonymisierte Röntgenaufnahmen. Die Studierenden haben mit unserer Software die Möglichkeit, auch sehr schwierige und belastende Situationen wie die geschilderte in einem geschützten Rahmen zu erleben und sich damit auf ihren späteren beruflichen Alltag vorzubereiten", erläutert Hege. Die Symptome der virtuellen Patient:innen führen dabei zu Diagnosen, die den späteren Ärztinnen und Ärzten in Kliniken und der Allgemeinmedizin häufiger begegnen werden.

Möglichkeit der Zusammenarbeit auf internationaler Ebene

Gemeinsam mit Partnern in Deutschland, Frankreich, Polen, Portugal und Spanien arbeitet der Lehrstuhl für Medical Education Sciences an der Medizinischen Fakultät an der Bereitstellung einer mehrsprachigen und möglichst vielfältigen Sammlung von 200 virtuellen Patientinnen und Patienten für Studierende der Medizin, die sich flexibel in die verschiedenen Lehrpläne weltweit integrieren lässt. Die Sammlung ist auf das klinische Entscheiden in verschiedenen Kontexten und Komplexitäten fokussiert und wird durch die Mehrsprachigkeit auch die Mobilität von Studierenden z.B. im Rahmen von Austauschprogrammen fördern.

Hege betont: "Unser Ziel ist eine langfristige enge Zusammenarbeit mit unseren Partnerinnen und Partnern sowie interessierten Fakultäten, Lehrenden und Studierenden auch über den Förderzeitraum hinaus. Damit möchten wir sicherstellen, dass die Sammlung auch immer wieder aktualisiert und erweitert wird und über einen langen Zeitraum hinweg eingesetzt werden kann." Die Fallbeschreibungen der virtuellen Patientinnen und Patienten gibt es bisher auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch und Polnisch.