Was denken Fachleute über medizinisches Cannabis?

Die EACPT führt derzeit eine Erhebung unter europäischen Gesundheitsfachkräften durch, um ihr Wissen und ihre Ansichten über Cannabis zu untersuchen.

Eine Therapieform wie jede andere?

Übersetzt aus dem Französischen

Dr. Émilie Jouanjus ist Pharmakoepidemiologin an der Université Toulouse-III-Paul-Sabatier (Universität Paul Sabatier) in Toulouse und Mitglied des Réseau Français d'Addictovigilance (Französisches Netzwerk zur Suchtüberwachung). Aufgrund ihrer Expertise wurde sie 2015 Mitglied der WHO-Arbeitsgruppe über die Auswirkungen des Freizeitkonsums von Cannabis. Außerdem ist Jouanjus Mitvorsitzende der Arbeitsgruppe junger Pharmakologen in der European Association for Clinical Pharmacology and Therapeutics - EACPT (Europäische Vereinigung für klinische Pharmakologie und Therapeutik).

esanum: Sie haben eine Umfrage über die Wahrnehmung von medizinischem Cannabis durch medizinisches Personal gestartet. Was sind die Beweggründe dafür?

Dr. Jouanjus: Die EACPT hat diese Studie auf europäischer Ebene in Auftrag gegeben, weil sich die Haltung gegenüber Cannabis sehr schnell ändert. Lange Zeit war der Konsum von Cannabis fast überall auf der Welt illegal, aber in den letzten zehn Jahren hat sich diese Situation rasant gewandelt. Insbesondere in Europa haben viele Länder den Einsatz von Cannabis zu therapeutischen Zwecken bereits zugelassen, darunter Deutschland und Italien. Weitere Länder ziehen dies in Betracht. Auch in Frankreich, den skandinavischen Ländern, Polen und Portugal laufen entsprechende Versuche.

Das Ziel dieser Initiativen ist es, den Zugang zu Medikamenten auf Cannabisbasis für bestimmte Beschwerden wie Spastizität bei Multipler Sklerose, Schmerzen bei Neuropathie oder Krebs, HIV-bedingte Kachexie oder seltene Formen von Epilepsie zu ermöglichen, wenn herkömmliche Behandlungen versagt haben. Gesundheitsdienstleister werden in Bezug auf Cannabis eine immer wichtigere Rolle spielen, sei es bei der Verschreibung und der Abgabe entsprechender Präparate oder bei der Aufsicht über die Einnahme.

esanum: Ist die Behandlung mit medizinischem Marihuana für Gesundheitsdienstleister eine Therapieform wie jede andere?

Dr. Jouanjus: Im Idealfall sollten Mediziner:innen und Pflegende in der Lage sein, medizinisches Marihuana unter rein klinischen Gesichtspunkten zu betrachten, also seine Wirksamkeit und seine Nebenwirkungen zu beurteilen. Die Rückmeldungen aller Akteure aus dem Gesundheitswesen sind umso wichtiger, da die wissenschaftliche Beweislage im Moment noch eingeschränkt ist.

Aber was genau wissen Angehörige der Gesundheitsberufe über medizinisches Cannabis? Das Thema ist noch neu und sehr komplex: Cannabinoide sind keine einheitliche pharmakologische Klasse und ihre pharmakologischen Eigenschaften variieren erheblich.

Mangelndes Wissen oder Voreingenommenheit können die Wahrnehmung von medizinischem Cannabis verzerren. Da sich Cannabis schnell von einer verbotenen Droge zu einem Medikament entwickelt hat, genießt es nun den Ruf einer unbedenklichen Substanz. Die breite Öffentlichkeit hält es für eher harmlos. Gesundheitsexpert:innen kennen seine neuropsychiatrischen Wirkungen, unterschätzen aber möglicherweise andere Effekte.

In einer vorhergehenden Studie habe ich 35 Fälle von Herz-Kreislauf-Problemen im Zusammenhang mit Cannabiskonsum beschrieben, die vom französischen Netzwerk für Suchtprävention zwischen 2006 und 2010 erfasst wurden. Bei diesen Fällen handelte es sich meist um junge Männer ohne medizinische Vorgeschichte. Einige hatten akute Koronarsyndrome, andere wiederum periphere Komplikationen wie Gefäßerkrankungen in den unteren Gliedmaßen oder sogar das Buerger-Syndrom. Ich habe auch drei schwere Hirnkomplikationen diagnostiziert. Insgesamt starben neun dieser Patienten, und wahrscheinlich sind diese Fälle nur die Spitze des Eisbergs.

Wenn medizinisches Cannabis allgemein eingesetzt werden soll, müssen Mediziner:innen es unbedingt wie jedes andere Medikament behandeln, damit sie das Verhältnis zwischen Nutzen und Risiken objektiv beurteilen können.

esanum: Spaltet dieses Thema das Gesundheitswesen?

Dr. Jouanjus: In der Praxis ist das zu spüren. Im US-Bundesstaat Colorado, wo der Konsum von Cannabis weit verbreitet ist, bezweifelten die meisten Hausärzt:innen in einer Studie die Wirksamkeit von Cannabis und befürchteten unerwünschte Nebenwirkungen. In Ländern, die die medizinische Verwendung von Cannabis bereits zugelassen haben, wird es dagegen von einigen verschreibenden Ärzt:innen den Opioiden oder Benzodiazepinen vorgezogen.

Auch in der wissenschaftlichen Fachpresse wird das Thema heiß diskutiert. Das "New England Journal of Medicine" hat sich im Anschluss an eine hitzige Debatte unter seinen Lesern sehr positiv zu medizinischem Marihuana geäußert. Als meine Studie über die möglichen kardiovaskulären Folgen von Cannabis als Genussmittel veröffentlicht wurde, hat sie vor allem in den Vereinigten Staaten einige Wellen geschlagen.

esanum: Sie befragen das Gesundheitspersonal auch zum eigenen Cannabiskonsum. Warum interessiert Sie das?

Dr. Jouanjus: Der "Abstand zum Objekt" als soziologisches Konzept spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die unmittelbare Vertrautheit mit einem Produkt verändert seine Wahrnehmung. In den Vereinigten Staaten zeigte eine Studie unter Pharmaziestudierenden dass diejenigen, die Cannabis für den Freizeitgebrauch bereits konsumiert hatten, die medizinischen Anwendungsgebiete von Cannabis positiver bewerteten. Unsere Umfrage untersucht daher das unmittelbare Verhältnis der Befragten zu Cannabis im Allgemeinen.

Um die unterschiedlichen Wahrnehmungen besser bewerten zu können, haben wir einige offene Fragen ähnlich einem "Assoziationsraum" mit aufgenommen. Wir wollen dadurch verstehen, was der Begriff "Cannabis" bei den Teilnehmenden hervorruft. Abschließend gehen wir in dieser Umfrage unter anderem auf vorwiegend klinische Aspekte ein: Welche Indikationen gibt es Ihrer Meinung nach? Wer sollte Cannabis verschreiben können?

esanum: Diese Umfrage richtet sich unterschiedslos an alle Angehörigen der Gesundheitsberufe. Was sind die Gründe für diesen Ansatz? 

Dr. Jouanjus: Ärzt:innen, Krankenpfleger:innen, Apotheker:innen... Das Wissen, die Ansichten und Überzeugungen all derer, die an der Gesundheitsversorgung beteiligt sind, wirken sich auf die Behandlung aus. In angelsächsischen Ländern wurden bereits Studien durchgeführt, an denen zum Beispiel Pflegefachkräfte in der Onkologie, Apotheker:innen und Strahlentherapeut:innen teilgenommen haben. Es hat sich gezeigt, dass keine Gruppe unter den Fachleuten über ausreichende Kenntnisse über medizinisches Cannabis verfügt.

In einer anderen Umfrage erwiesen sich Apotheker:innen in Bezug auf ihr Allgemeinwissen über Cannabis als kompetenter als Neurolog:innen und Pflegepersonal: zum Beispiel was die Anzahl der Phytocannabinoide in der Pflanze angeht, die unerwünschten Nebenwirkungen von Cannabinoiden, den rechtlichen Status entsprechender Cannabisprodukte oder ihrer Derivate usw. Pflegekräfte hatten dagegen im Vergleich zu Neurolog:innen eine positivere Einstellung und im Gegensatz zu Apotheker:innen ein fundierteres Wissen über die Eigenschaften und klinischen Anwendungen von Cannabinoiden. Daher schien es uns wichtig, alle Angehörigen der Gesundheitsberufe anzusprechen, zumal sich die Rolle des paramedizinischen Personals allmählich erweitert.

esanum: Wie wird die Umfrage ausgewertet?

Dr. Jouanjus: Wir werden eine beschreibende statistische Analyse und je nach statistischer Aussagekraft unserer Daten eine logistische Regression durchführen. Wir wollen zum Beispiel untersuchen, ob der rechtliche Status von Cannabis in verschiedenen Ländern ein Faktor ist, der die Meinung des medizinischen Personals beeinflusst.

Ich arbeite in einer Forschungseinheit für öffentliche Gesundheit, dem Centre d'Epidémiologie et de Recherche en santé des POPulations oder CERPOP (Zentrum für Epidemiologie und Forschung zur Gesundheit der Bevölkerung). Das Zentrum ist eine gemischte Einheit (INSERM - Universität Toulouse) mit Epidemiologen und klinischen Sachverständigen, aber auch Jurist:innen, Ethikexpert:innen und Philosoph:innen. Diese Fachleute haben uns vorgeschlagen, bestimmte Fragestellungen in die Untersuchung aufzunehmen. Sie werden uns anschließend bei der Auswertung der Ergebnisse helfen, idealerweise in Zusammenarbeit mit Soziolog:innen und Psycholog:innen.
 

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