Wie sich Schwerhörigkeit auf das soziale Umfeld auswirkt

Wie eine Glasglocke stülpt sich Schwerhörigkeit über einen Menschen - manchmal von einem Tag auf den anderen. Das macht nicht nur den Betroffenen zu schaffen, sondern auch deren Angehörigen.

Angehörige versuchen häufig, fehlendes Hörvermögen ihres Gegenübers auszugleichen

Wie eine Glasglocke stülpt sich Schwerhörigkeit über einen Menschen - manchmal von einem Tag auf den anderen. Das macht nicht nur den Betroffenen zu schaffen, sondern auch deren Angehörigen.

Roger Reichardt geht zur Tür: Etwas leiser sprechen bitte. Der Geräuschpegel der Gespräche im Nebenzimmer reicht aus, um ihm beim Hören Probleme zu bereiten. Denn Reichardt ist von Geburt an schwerhörig. Er berät im HörBIZ Berlin, einem Sozialdienst für Hörgeschädigte. Dabei unterstützt ihn Sandra Markoff. Ihre Mutter ist seit langem schwerhörig. Sie weiß, dass Schwerhörigkeit nicht nur die Betroffenen, sondern auch deren Angehörige massiv herausfordern kann.

Der Hörverlust verändere den Alltag aller Beteiligten, bestätigt auch die Audiologin Vanessa Vas von der britischen Universität Nottingham. Sie hat gerade eine Untersuchung im Fachjournal Trends in Hearing zu dem Thema veröffentlicht. Angehörige versuchten häufig, das fehlende Hörvermögen ihres Gegenübers auszugleichen. Sie übernähmen in vielen Fällen das Telefonieren, hörten Radio und Fernsehen lauter als für sie nötig oder müssten häufig Sätze wiederholen.

Auch die Teilnahme an Familienfeiern und Festen werde zum Problem, weil Schwerhörige bei lauten Hintergrundgeräuschen Gesprächen schwer folgen könnten. Einsamkeit, Frustration, Schuldgefühle, mangelndes Verständnis und schwindende Wertschätzung füreinander seien mögliche Folgen und belasteten sowohl Schwerhörige als auch deren Familie.

Die Studie sei der Versuch, die Perspektiven von Schwerhörigen und deren Angehörigen zusammenzubringen, erklärt Vas. Als Audiologin beschäftigt sie sich mit dem menschlichen Gehör. Angehörige merkten häufig früh, wenn sich ein Hörverlust ankündige und könnten Betroffene motivieren, Hilfe zu suchen. "Schwerhörigkeit ist ein bleibender Zustand, der die gesamte Familie beeinflusst", erläutert sie. Das müsse in der Behandlung berücksichtigt werden.

Nachholbedarf auch bei Krankenkassen

Es sei bislang aber nicht selbstverständlich, dass Angehörige in die Behandlung mit einbezogen würden, sagt Markoff von der Berliner Beratungsstelle. Von Seiten der Krankenkassen gebe es wenig Unterstützung oder Angebote, beispielsweise Workshops für Angehörige. Auch die Kosten für Audiotherapeuten, die Betroffenen helfen, ihre Kommunikation an die Schwerhörigkeit anzupassen, würden nicht übernommen.

Schwerhörige und ihre Angehörigen müssten sich neu verstehen lernen, sagt Markoff. Menschen, die schlecht hören, sollten bei Nichtverstehen nachfragen oder störende Hintergrundgeräusche unterbinden. Ihre Gesprächspartner könnten zu einer entspannten Gesprächssituation beitragen, indem sie Gesagtes bereitwillig wiederholten, Blickkontakt hielten oder auf eine deutliche Aussprache achteten.

Vor allem bei Menschen, die erst im Lauf ihres Lebens das Gehör ganz oder teilweise verlieren, "ist das ganze Koordinatensystem verrutscht", berichtet Reinhardt, der selbst schwerhörig ist. Kommunikation sei plötzlich nicht mehr selbstverständlich. Manchmal komme auch die Auseinandersetzung mit dem Älterwerden dazu. Das beeinflusse das Selbstwertgefühl und könne auch psychische Probleme nach sich ziehen.

Etwa 14 Millionen Schwerhörige gibt es in Deutschland. Sie und ihre Angehörigen könnten nur auf wenig professionelle Unterstützung zurückgreifen und würden mit ihrer Situation oft allein gelassen, beklagen Reichardt und Markoff.

Bislang konzentrierten sich Audiologen vorwiegend auf die medizinischen Aspekte, wie die Diagnose und die Anpassung der technischen Hörhilfen. Es sei aber ein Trugschluss, dass ein Hörgerät allein das Problem löse, betont Reichardt. "Es ist wichtig, neue Kommunikationsgewohnheiten zu entwickeln und weiter auf Augenhöhe miteinander zu sprechen", ergänzt Markoff. "Zugewandtheit und Respekt voreinander sind die wichtigsten Voraussetzungen dafür. Man darf nicht Diener oder Helfer des anderen sein."