Wir könnten 100.000 Menschen zusätzlich retten!

Beim plötzlichen Herzstillstand gibt es ein Zeitfenster für die Wiederbelebung von 3 bis 5 Minuten.Wie kann man dieses so nutzen, dass mehr Menschen dem Tod entgehen? Die Initiative KIDS SAVE LIVES ist eine mögliche Antwort, meint Prof. Dr. Bernd W. Böttiger im Interview.

Beim plötzlichen Herzstillstand gibt es ein Zeitfenster für die Wiederbelebung von 3 bis 5 Minuten.

Wie kann man dieses so nutzen, dass mehr Menschen dem Tod entgehen? Diese Frage treibt Reanimationsexperten schon lange um. Die Initiative KIDS SAVE LIVES ist eine mögliche Antwort, meint Prof. Dr. Bernd W. Böttiger. Der Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Uniklinik Köln ist zum zweiten Mal als Director Science and Research des European Resuscitation Council (ERC) wieder gewählt worden. Im Interview erklärt er, was er in seinem Job erreichen will.

esanum:  Als Sie dieses Jahr zum ERC-Direktor wiedergewählt wurden, sagten Siepublikumswirksam: "Wir können 100.000 Leben zusätzlich retten!" Was genau war gemeint?

Prof. Dr. Bernd W. Böttiger

Böttiger: Der plötzliche Herz- bzw. Herzkreislaufstillstand ist die dritthäufigste Todesursache in den Industrieländern. Leider dauert es meist acht bis zehn Minuten oder noch länger, bis der Rettungsdienst kommt – aber das Gehirn beginnt nach drei Minuten zu sterben. Das heißt, der Rettungsdienst kommt fast immer zu spät. Und alles, was man braucht damit ein Mensch überlebt, dessen Herz nicht mehr schlägt und dessen Blut nicht mehr fließt, sind zwei Hände. Schnell (100-120 mal pro Minute) und tief (mindestens 5 und maximal 6 cm beim Erwachsenen) drücken-entlasten-drücken-entlasten – in der Mitte zwischen den Brustwarzen und das im  Rhythmus eines Bee-Gees-Titels. Das haben die Erfinder der modernen Reanimation schon 1960 in einer Publikation beschrieben. In 60 bis 70 Prozent der Fälle von Herzkreislaufstillstand ist jemand dabei, der das beobachtet. Der könnte also mit zwei Händen die Funktion des Herzens übernehmen und Blut wieder fließen lassen, so dass das Gehirn nicht stirbt, bis der Rettungsdienst kommt. Also: wenn frühzeitig ein Laie etwas Sinnvolles macht, würden viel mehr Leute überleben.

esanum: Das alles ist ja lange bekannt.

Böttiger: Ja, und jeder der in Deutschland einen Führerschein macht, absolviert einen Erste-Hilfe-Kurs, dazu gehört auch die Wiederbelebung. Das lernen die Menschen, wenn sie 17 oder 18 sind. Und viele haben hier einen anderen Fokus, wollen meist so schnell wie möglich die acht Stunden Kurs hinter sich bringen. Und das Ergebnis ist, dass bei uns viel zu wenig Menschen helfen, wenn jemand einen plötzlichen Herzstillstand hat. In Norwegen, Dänemark und Holland sind es sehr viel mehr Menschen, die helfen. Wenn das bei uns auch so wäre, würden in Deutschland 10.000 Menschleben im Jahr mehr gerettet. Und auf Europa bezogen wären es 100.000. Darum die Idee, schon Kindern die Wiederbelebung beizubringen.

esanum: Was soll die Schülerausbildung bewirken?

Böttiger: Kindern vor der Pubertät ab der siebten Klasse macht es richtig Spaß, Wiederbelebung zu üben. Die sind begeistert bei der Sache. Die Lehrerinnen und Lehrer sagen uns immer: so motiviert haben wir unsere Schüler selten erlebt. Wenn wir also etwa zwei Stunden pro Jahr unterrichten – z.B. eine Stunde aus Biologie, eine aus Sport - dann ist das wie Fahrradfahren, nur sehr viel einfacher – das verlernt man nicht mehr.

esanum: Wie ist der Stand derzeit?

Böttiger: Wir haben die Kultusministerkonferenz überzeugen können, dass sie das seit 2014 für ganz Deutschland empfehlen. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterstützt unsere "KIDS SAVE LIVES"-Initiative. Doch in Deutschland sind wir fast überall nach wie vor Entwicklungsland. In Mecklenburg-Vorpommern werden schon sehr lange Lehrerinnen und Lehrer in Wiederbelebung ausgebildet, damit sie die Schüler unterrichten können. Wir brauchen für jede Schule nur fünf bis zehn Lehrer, die dafür ausgebildet sind. Baden-Württemberg hat eine tolle Initiative, die heißt "Löwen retten Leben". In Sachsen gibt es eine Initiative vom Bildungsministerium. In Nordrhein-Westfalen steht es jetzt immerhin im Koalitionsvertrag der neuen Landesregierung, und es geht los. In den restlichen Bundesländern wird es bisher immer noch dünn, und hoffentlich geht es bald überall zügig voran. Es ist viel zu wenig passiert seit der Empfehlung der Kultusminister 2014. Wir leben diesbezüglich immer noch in einem Entwicklungsland.

esanum: Und was tun Sie?

Böttiger: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist sehr erfolgreich mit der Kampagne "Gib Aids keine Chance." Und ich finde, so etwas brauchen wir auch für die Wiederbelebung. Auch der Bundgesundheitsminister hat sich sehr dafür eingesetzt. Unter seiner Schirmherrschaft und mit Hilfe der Bundeszentrale haben wir im Oktober 2016 das "Nationale Aktionsbündnis Wiederbelebung" (NAWIB) gegründet. Wir haben vor, wesentliche Impulse bei der Laieninformation und -ausbildung zu setzen, und wir wollen auch dazu beitragen, dass in allen Schulen möglichst mit einheitlichen Konzepten die Wiederbelebung unterrichtet wird. Unser Ziel ist, bis 2020 eine Laienreanimationsquote von mehr als 50 Prozent zu erreichen.

esanum: Ist das realistisch?

Böttiger: Wir, die deutschen Anästhesisten und der Deutsche Rat für Wiederbelebung, haben zusammen mit vielen anderen vor 5 Jahren angefangen, uns verstärkt darum zu kümmern. Damals lagen wir bei 15 bis 20 Prozent Laienreanimation. Mittlerweile liegen wir bei über 30 Prozent. Auch an der Uniklinik Köln haben wir sehr viele Schülerinnen und Schüler ausgebildet – und die bekommen immer die Hausaufgabe, in den nächsten 14 Tagen zehn Menschen zu zeigen wie das geht. So sind die Schülerinnen und Schüler auch Multiplikatoren. Also wir sind auf einem guten Weg.

esanum: Was motiviert Sie besonders in dieser Arbeit?

Böttiger: Warum bin ich Arzt geworden? Weil ich es für unerträglich halte, wenn Menschen, die gut leben könnten, krank sind oder gar sterben. Es gibt für mich nichts Größeres, als ein Menschenleben zu retten. Wer mal jemandem mit eigenen Händen das Leben gerettet hat, vergisst das nie. Etwas Größeres gibt es nicht.

esanum: Wollen Sie auch potenziellen Nachwuchs für Ihr Fachgebiet ansprechen?

Böttiger: Es ist sicher ein gutes Marketing für die Medizin, speziell für die Anästhesisten, die sich maßgeblich in der Notfallmedizin engagieren. Wir stellen 70 Prozent der Notärztinnen und Notärzte, wir haben 70 Prozent der Intensivstationen unter unserer Leitung. Und wir können mit so einem wunderbaren und wichtigen Thema noch weiter sichtbar werden.

esanum: In Ihrer Position im ERC können Sie wichtige Impulse für Studien und wissenschaftliche Projekte in der Reanimationsversorgung setzen. Was tun Sie derzeit?

Böttiger: Wir gucken uns in den europäischen Ländern genau an, wie gut die Bevölkerung ausgebildet ist – und welche Auswirkungen das auf das Überleben hat. Dazu machen wir internationale Beobachtungsstudien. Aktuell läuft dazu eine Studie unter Beteiligung von fast 30 Ländern. Wir sind auch beteiligt an einem großen Netzwerk, wo geschaut wird, welche genetischen Faktoren dazu führen, dass jemand plötzlich einen Herzstillstand bekommt und welche Menschen das besser überleben als andere. Wir analysieren auch die Telefonreanimation in den einzelnen Ländern. Das heißt im Idealfall, der angerufene Notdienst bleibt am Telefon und unterstützt den Anrufer bei der Herzdruckmassage, bis der Rettungsdienst eintrifft. Das tun in Deutschland leider nur weniger als 30 Prozent der Rettungsleitstellen. In Tschechien und Ungarn funktioniert das seit Jahren flächendeckend. Auch da ist Deutschland noch Entwicklungsland.

esanum: Gibt es Neuheiten auf dem Gebiet der Reanimation?

Böttiger: Natürlich. Vor 60 Jahren konnten wir noch gar nicht reanimieren. Jetzt wissen wir, dass ein Temperaturmanagement, eine Kühlung, das Überleben verbessert. Wir wissen, dass die meisten ein ursächliches Herzproblem haben, die müssen sofort in ein Zentrum zum Herzkatheter, weil sie vielleicht eine Herzkranzgefäßverengung haben, die so schnell als möglich behandelt werden muss. Das verdoppelt zusätzlich das Überleben, wenn es sofort angegangen wird. Neue Ideen sind, dass man die GPS-Daten des Anrufers nutzt, um Zeit zu sparen, indem man sofort den Ort des Geschehens kennt. Oder dass die Leistelle die Situation via Handy per Video sieht. Auch daran wird gearbeitet. Und seit 2015 empfehlen wir sogenannte Ersthelfersysteme in den Leitlinien. Man kann sich dort registrieren lassen, wenn man weiß, wie das mit dem Reanimieren geht, und wird sofort gerufen, wenn jemand in der Nähe einen plötzlichen Herzstillstand erleidet.

Und, ich wiederhole: den größten Effekt hat die Laienreanimation. Die Dänen konnten das Überleben verdreifachen, indem sie die Laienreanimation von 20 auf 50 Prozent gesteigert haben. Das ist unser Vorbild – und unser Ziel.