Wochenrückblick Gesundheitspolitik: Urteile mit weitreichenden Konsequenzen für Honorarärzte und Patienten

Im Bereich der Fachmedizin haben zwei bedeutende Urteile das Gesundheitswesen in Deutschland in Aufruhr versetzt. Eines zu Sozialversicherungspflicht von Honorarärzten im Bereitschaftsdienst und eines vom Europäischen Gerichtshof zu den Patientenrechten.

Honorarärzte im Bereitschaftsdienst nicht automatisch selbstständig

Ein Zahnarzt (oder ein Arzt), der als sogenannter Pool-Arzt auf Honorarbasis im (zahn-)ärztlichen Bereitschaftsdienst tätig ist, ist damit nicht automatisch selbstständig und somit von der Sozialversicherungspflicht befreit. Vielmehr komme es auf die Umstände des Einzelfalls an, entschied das Bundessozialgericht am vergangenen Dienstag in letzter Instanz.

Der Fall: Ein Zahnarzt, der 2017 seine Praxis verkauft und seine Zulassung zur kassenzahnärztlichen Versorgung zurückgegeben hatte, übernahm in den Folgejahren überwiegend am Wochenende Notdienste im Rahmen des Bereitschaftsdienstes der KZV. Dabei rechnete der Zahnarzt seine Leistungen nicht individuell Patienten-bezogen ab, sondern erhielt ein Stundenhonorar. Der Zahnarzt war der Auffassung, dies sei eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit, für die Rentenversicherungsbeiträge hätten gezahlt werden und an der sich die KZV hätte hälftig beteiligen müssen. Deshalb beantragte er bei der Rentenversicherung Bund die Überprüfung der Sozialversicherungspflichtigkeit seiner Tätigkeit. Weil die Rentenversicherung dies verneinte, klagte der Zahnarzt vor den Sozialgerichten.

Anders als die Rentenversicherung und die beiden Vorinstanzen hat nun der 12. Senat des Bundessozialgerichts entschieden, dass allein die Teilnehme am vertragszahnärztlichen Notdienst nicht automatisch zur Annahme einer selbstständigen Tätigkeit zwingt. Vielmehr komme es auf die konkreten Umstände des Einzelfalls an. Für die Arbeitnehmerschaft und gegen die Selbstständigkeit sprechen nach Auffassung des BSG folgende Kriterien: Der klagende Zahnarzt war im Rahmen seiner Beschäftigung in die von der KZV organisierten Abläufe eingebunden. Hierauf hatte er keinen entscheidenden und erst recht keinen unternehmerischen Einfluss. Er habe eine von dritter Seite organisierte Struktur vorgefunden, in der er sich fremdbestimmt eingefügt habe. Auch sei der Kläger unabhängig von konkreten Behandlungen stundenweise bezahlt worden und habe nicht über eine Abrechnungsbefugnis verfügt, die für das Vertragszahnarztrecht eigentlich typisch sei.  Dass der Kläger bei der konkreten Behandlung frei und eigenverantwortlich handeln konnte, falle nicht entscheidend ins Gewicht. Infolgedessen unterliege der Zahnarzt bei der vorliegenden Notdiensttätigkeit aufgrund seiner Beschäftigung der Versicherungspflicht.

Das Urteil hat Breitenwirkung, weil es auch maßgeblich für die Selbstständigkeit/ Sozialversicherungspflichtigkeit im ärztlichen Bereitschaftsdienst ist, der in erheblichem Umfang von sogenannten Pool-Ärzten versehen wird. Schon im Vorfeld des zu erwartenden Urteils hatte die KBV an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) appelliert, eine entsprechende Korrektur des maßgeblichen Paragraf 7 des SGB V einzuleiten. Nach dieser Vorschrift ist "Beschäftigung… die nicht selbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis. Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers."

KV Baden-Württemberg reduziert Bereitschaftsdienst

Die Kassenärztlichen Vereinigungen sehen das Urteil mit Besorgnis, weil es der Sicherstellung des Bereitschaftsdienstes, der zum Sicherstellungsauftrag zählt, die personelle Grundlage entzieht. Es sei denn, KVen und die von ihnen beschäftigten Pool-Ärzte zahlen Sozialversicherungsbeiträge. Dies würde beträchtliche Zusatzkosten verursachen.

Die KV Baden-Württemberg hat sofort reagiert und auf ihrer Vertreterversammlung in einer Sondersitzung den Vorstand aufgefordert, bis zum 6. Dezember ein neues Konzept für den Bereitschaftsdienst vorzulegen. Die KV selbst teilt seit vergangenem Mittwoch keine Pool-Ärzte mehr für Bereitschaftsdienst ein. Die Öffnungszeiten der Bereitschaftsdienste wurden verkürzt, Standorte sollen kurzfristig geschlossen werden. Im Rahmen der Bereitschaftsdienste dürfen nur noch Mediziner mit einer vertragsärztlichen Zulassung tätig werden, auch dann, wenn sie längere Zeit nicht mehr ihren Beruf ausgeübt haben. Nach Auffassung des Berufsverbandes Deutscher Internisten, so Präsidentin Christine Neumann-Grutzeck und ihr Vize Dr. Norbert Smetak wird dies die ambulante Versorgung "nachhaltig schwächen". Der BDI werde sich deshalb für eine Gesetzesänderung stark machen. Auch der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz befürchtet: "Das Modell des ärztlichen Notdienstes, der Praxis- und Hausbesuche rund um die Uhr ermöglicht, steht mit der Entscheidung des Bundessozialgerichts auf tönernen Füßen." (Az. B 12 R 9/21)

Wirtschafts- und Gesundheitsweise mahnen Strukturwandel bei Kliniken an

Gemeinsam haben die Sachverständigenräte zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und für Gesundheit eine Strukturbereinigung bei Kliniken, verbunden mit einem Abbau von Überkapazitäten, und eine Einführung der monistischen Investitionsfinanzierung gefordert. 

Im Abbau von Überkapazitäten schlummerten signifikante Qualitäts- und Effizienzgewinne. Die vom Gesetzgeber beschlossene Verlängerung des Strukturfonds, mit dem Schließungen, Konzentrationen und Umwidmungen gefördert werden sollen, sei ein geeignetes Instrument. Dies müsse noch stärker auf den Kapazitätsabbau fokussiert werden. Die PKV solle an der Finanzierung des Strukturfonds beteiligt werden.

Bei der Investitionsfinanzierung, die bislang in Verantwortung der Länder liegt und deren Volumen seit Jahren rückläufig und regional unterschiedlich sei, sollte auf ein monistisches System der Finanzierung durch die Krankenkassen umgestellt werden. Dies könne durch einen erhöhten Steuerzuschuss an den. Gesundheitsfonds erfolgen. Besondere Qualität könne durch Einzelversorgungverträge gefördert werden. 

Der Sachverständigenrat für Gesundheit mahnt darüber hinaus eine wirksame Digitalisierung der Versorgung an. Notwendig sei dies, um das Leistungspotential von Ärzten und Pflegekräften effizienter auszuschöpfen. Verglichen mit anderen Ländern liege die Personalausstattung im ärztlichen und pflegerischen Bereich im oberen Drittel. „Nicht bedarfsgerechter Einsatz vorhandener Fachkräfte sowie eine erschreckend beschränkte Nutzung digitaler Technologien tragen deutlich zu den beklagten Engpässen bei“, so der Rat.   

EuGH: Patienten haben Recht auf kostenlose Kopie ihrer Akte

Patienten haben einen Anspruch darauf, unentgeltlich eine erste Kopie ihrer vollständigen Patientenakte von Ärzten und Zahnärzten zu erhalten. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am Donnerstag höchstrichterlich entschieden. Das Recht darauf ergebe sich aus der Datenschutz-Grundverordnung. Der Antrag auf eine Kopie müsse gegenüber dem Arzt/Zahnarzt nicht begründet werden. Im vorliegenden Fall wollte der Kläger Haftungsansprüche gegen seinen Zahnarzt geltend machen, der die Kopie jedoch nur gegen Kostenerstattung – meist 30 bis 50 Cent je Seite – anfertigen wollte. Der Rechtsstreit zog sich durch alle Instanzen bis zum Bundesgerichtshof, der den Fall dem EuGH vorlegte. (Rechtssache C-307/22 FT).