Wochenrückblick: Halbjahresbilanz: GKV-Defizit steigt auf 2,2 Milliarden Euro

Die gesetzliche Krankenversicherung verzeichnet im ersten Halbjahr 2024 ein Defizit von 2,2 Milliarden Euro. Auch der Bundesrechnungshof warnt vor den steigenden Belastungen für die Versicherten.

Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung gestiegen

Vor dem Hintergrund der um 7,6 Prozent gestiegenen Leistungsausgaben ist das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums vom Freitag im ersten Halbjahr auf 2,2 Milliarden Euro gewachsen. Mit einer Finanzreserve von 6,3 Milliarden Euro wird das gesetzliche Soll von 0,2 Monatsausgaben gerade noch eingehalten. Die höchsten Defizite verbuchten Ersatzkassen (859 Millionen Euro), gefolgt von den AOKen (721 Millionen Euro). Bei einem Defizit von 6,3 Milliarden Euro schrumpfte die Reserve des Gesundheitsfonds auf 3,1 Milliarden Euro; sie dürfte am Jahresende aufgrund von Einmalzahlungen wieder etwas steigen.

Hauptkostentreiber sind nach wie vor die Krankenhäuser mit einem Zuwachs von 7,9 Prozent oder 3,6 Milliarden Euro. Neben der dynamischen Preiskomponente (Orientierungsrate und DRG-Veränderung) ist der Anstieg der Pflegepersonalkosten um 10,9 Prozent oder 1,05 Milliarden Euro ursächlich für die Wachstumsdynamik, die aber offenbar die prekäre Finanzlage vieler Kliniken nicht kompensieren kann. Ebenfalls hohe Kostensteigerungen verursachen Arzneimittel mit einem Plus von zehn Prozent; ein Teil des Wachstums ist auf den zum Jahresanfang gesetzlich vorgesehenen Wegfall des von 7 auf 12 Prozent erhöhten Herstellerrabatts zurückzuführen. Ohne diesen Effekt stiegen die Arzneiausgaben um 7,6 Prozent. Nach wie vor außerordentlich dynamisch steigen die Aufwendungen für Medikamente im Rahmen der ASV mit 49,6 Prozent; das sind 347 Millionen Euro plus gegenüber dem Vorjahreshalbjahr. 

Erstmals fehlt in der Veröffentlichung des BMG die sonst übliche Kommentierung durch den Bundesgesundheitsminister. Besorgt äußert sich der GKV-Spitzenverband: "Damit stehen keine Reserven mehr zur Verfügung, um Beitragserhöhungen im nächsten Jahr zu verhindern oder abzumildern", so GKV-Chefin Dr. Doris Pfeiffer. Die Politik scheine sich an steigende Zusatzbeiträge gewöhnt zu haben. 

Bundesrechnungshof: Rüge für steigende Beitragslasten

Der Bundesrechnungshof hat erneut vor wachsenden Beitragslasten der GKV-Versicherten gewarnt und dabei insbesondere den geplanten Transformationsfonds für die Modernisierung der Krankenhäuser und die geplante Aufhebung der Budgetierung für die Hausärzte kritisiert.

Der Transformationsfonds soll zur Hälfte und mit 25 Milliarden Euro über zehn Jahre aus den Beitragsgelder der GKV finanziert werden, so der Plan von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. Der Bundesrechnungshof sieht hingegen allein die Bundesländer in der Verantwortung für die Finanzierung der Modernisierung von Klinikstrukturen.

Wie die Krankenkassen hält der Rechnungshof die Aufhebung der Budgetierung für Hausärzte für verfehlt. Dies fördere nicht die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung und sei ein untaugliches Instrument, die Versorgung in ländlichen Regionen zu stärken. So hatte bereits der GKV-Spitzenverband darauf hingewiesen, dass in den meisten KVen eine Auszahlungsquote von hundert Prozent erreicht wird; Ausnahmen bilden nur die Stadtstaaten-KVen Berlin und Hamburg. Dort würde die Aufhebung der Budgetierung auf Kosten ländlicher Regionen unnötig Ärzte attrahieren. Ferner kritisiert der Rechnungshof die geplante Erhöhung der Bagatellgrenze für Wirtschaftlichkeitsprüfungen im Einzelfall.  

Der Vorsitzende des NAV-Virchowbundes, Dr. Dirk Heinrich, reagierte "mit Kopfschütteln" auf die wiederholte Kritik des Rechnungshofs. Tatsache sei, dass die Budgetierung zur Terminverknappung und damit zu weniger Leistungen für die Pati8enten führe. Dort, wo die Budgets für die hausärztliche Versorgung de facto nicht mehr bestehe wie in Thüringen und Bayern, gebe es weder Fehlanreize noch Leistungsausweitungen. 

destatis: Kosteninflation schmälert Reinertrag der Praxen

2022 war für die niedergelassenen Ärzte ein schlechtes Jahr. Wie das Statistische Bundesamt (destatis) in Wiesbaden mitteilt, sind die Kosten pro Praxis (ohne Berufsausübungsgemeinschaften und MVZ) in jenem Jahr um 6,6 Prozent auf 355.000 Euro gestiegen; das hat den Reinertrag um 2,5 Prozent auf 315.000 Euro je Praxis geschmälert. Die Einnahmen je Praxis stiegen lediglich um 2 Prozent.

Mit einem Minus von 1,4 Prozent auf 288.000 Euro kamen Allgemeinarztpraxen vergleichsweise glimpflich davon; der relativ hohe Kostenanstieg von 12,2 Prozent wurde teilweise durch steigende Einnahmen (plus 4,8 Prozent) kompensiert. Schlechter sieht es dagegen bei internistischen Praxen aus: ihr Reinertrag schrumpfte um 7,4 Prozent auf 325.000 Euro. Bei einem Einnahmenzuwachs um 6 Prozent stiegen die Kosten um 15,6 Prozent auf 460.000 Euro.

Deutlich niedriger liegen die Reinerträge je Arzt in den Praxen: im Schnitt erreichen sie 167.000 Euro, in Hausarztpraxen 155.000 Euro und in internistischen Praxen 183.000 Euro. Der Reinertrag ist nicht mit dem betriebswirtschaftlichen Gewinn gleichzusetzen: Abgezogen werden müssen davon noch die Kosten des Praxiserwerbs sowie Aufwendungen für die Altersvorsorge. Weiter real geschmälert wird der Reinertrag von den stark gestiegenen Lebenshaltungskosten, von denen Ärzte ebenso betroffen sind.

Kinderärzte: RSV-Impfung für Säuglinge praktisch unmöglich

Die Umsetzung der seit Juni von der STIKO empfohlenen Impfung von Säuglingen mit Nirsevimab gegen RSV ist in Pädiaterpraxen derzeit kaum umsetzbar, weil laut Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte dafür die rechtlichen und honorarpolitischen Voraussetzungen fehlen. Die entsprechende Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums sei "von Unkenntnis geprägt" und gehe davon aus, dass Praxen die Impfung „zum Nulltarif“ erbringen müssten. Geimpft werden müssten alle Säuglinge, die seit April geboren worden sind, sowie alle neugeborenen Babies. Dies erfordere insgesamt mehrere 100.000 Arzt-Eltern-Kontakte mit jeweils teils erheblichem Beratungsaufwand. Verbandspräsident Dr. Michael Hubmann: "Solange die Vergütung nicht gewährleistet ist, können wir die Impfung nur als private Leistung abrechnen. Das bedeutet, dass Eltern den Impfstoff in der Apotheke selbst besorgen und die Behandlung aus eigener Tasche vorstrecken müssen, bevor sie die Ausgaben bei ihrer Krankenkasse einreichen."

GKV: Ab November Blankoverordnung von Physiotherapie

Im größten Heilmittelbereich, der Physiotherapie, ist ab dem 1. November ebenfalls eine sogenannte Blankoverordnung möglich. Darauf weist der GKV-Spitzenverband hin. Dabei stellen Ärzte zwar nach wie vor die Diagnose auf der Verordnung, verordnen aber kein konkretes Heilmittel mehr, sondern überlassen dies der Verantwortung der Physiotherapeuten. Diese entscheiden auch über Anzahl und Frequenz der notwendigen Leistungen. Der GKV-Spitzenverband rechnet damit, dass künftig für etwa 6,5 Prozent der insgesamt 32 Millionen jährlichen Verordnungen den Physiotherapeuten die eigenverantwortliche Entscheidung über Art und Ausmaß der Leistungen überlassen. Die Kassen sehen dadurch mehr Flexibilität und Individualisierung bei der Versorgung ihrer Versicherten. Der Start erfolgt mit dem Indikationsbereich Erkrankungen des Schultergelenks. Insgesamt wurden rund 100 Indikationen in der Diagnosegruppe EX festgelegt, für die Blankoverordnungen in Frage kommen. Um eine unangemessene Leistungsausweitung zu vermeiden, wurde ein Ampelsystem geschaffen, dass ab der Zone "rot" Verhütungsabschläge vorsieht. 

ALBVVG: Wirkung weitgehend unbekannt

Positive Effekte des im Frühjahr vergangenen Jahres verabschiedeten ALBVVG auf Lieferengpässe bei versorgungskritischen Kinderarzneimittel und Antibiotika sind gegenwärtig nicht sichtbar. Dies geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hervor, die im Wesentlichen auf die für Ende 2025 gesetzlich vorgesehene Evaluation verweist. So bleibt gegenwärtig offen, ob die Aufhebung der Festbeträge für diese Arzneimittel und die Vereinbarung von 50 Prozent darüber liegenden Erstattungsbeträgen für die GKV Mehrkosten verursacht und den Herstellern Mehrerlöse erbracht hat.  Hinsichtlich der Verbesserung der Versorgungssicherheit mit Kinderarzneimittel bleibe die geplante Evaluation abzuwarten. Zu den Lieferengpässen bei Tamoxifen schreibt das BMG, dass für Arzneimittel mit versorgungsrelevanter Marktkonzentration vorgeschrieben sei, dass mindestens die Hälfte der Lose für in der EU produzierte Arzneimittel ausgeschrieben werden müssten. Im Hinblick auf Lieferengpässe bei Doxycyclin wird mitgeteilt, dass vom BfArM die Möglichkeit geschaffen werden kann, in solchen Fällen auch Arzneimittel mit ausländischer Kennzeichnung nach Deutschland zu importieren. Ferner seien die technischen Voraussetzungen für die Einführung eines Frühwarnsystems für Lieferengpässe durch das BfArM geschaffen worden; im Herbst 2024 sei mit ersten prototypischen Auswertungen zu rechnen. 

Bundeskabinett verabschiedet Gesetz zur Pflegeassistenz

Das Bundeskabinett hat am Mittwoch einen Gesetzentwurf verabschiedet, mit dem die bislang 27 in den Bundesländern verschiedenen Ausbildungsgänge für Pflegehilfsberufe vereinheitlicht werden. Die Ausbildungsdauer wurde darin auf 18 Monate festgelegt; ferner ist eine einheitliche Ausbildungsvergütung von rund 1000 Euro monatlich vorgesehen, wie Bundesfamilienministerin Lisa Paus und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bei der Vorstellung desd Gesetzentwurfs sagten. Voraussetzung für die Ausbildung ist ein Hauptschulabschluss; davon kann aber bei positiver Prognose abgesehen werden. Die Ausbildung kann in Teilzeit absolviert werden. Verkürzend wirken sich einschlägige Erfahrung und Vorkenntnisse aus. Die Ausbildung umfasst Pflichteinsätze in den Bereichen stationäre Langzeitpflege, ambulante Langzeitpflege und stationäre Akutpflege. Der Start ist für 2027 vorgesehen.

Das Gesetz ist Bestandteil einer umfassenden Pflegereform, die deshalb notwendig sei, weil die Situation der Pflege "bedrückend und besorgniserregend" sei, so Lauterbach. Aktuell arbeite das Ministerium daher an drei weiteren Gesetzesvorhaben, die noch in dieser Legislaturperiode in Kraft treten sollen: das Pflegekompetenzgesetz mit erweiterten Befugnissen von Pflegefachberufen, wie sie in anderen europäischen Ländern bereits üblich seien; die Schaffung eines Advanced Practitioner auf Masterniveau, der insbesondere die hausärztliche Versorgung stützen soll; schließlich eine Pflegeversicherungsstrukturreform, die die Vergütung der ambulanten Pflege neu regelt und mit der mehr Finanzierungssicherheit in der sozialen Pflegeversicherung geschaffen werden soll. Derzeit ist die Pflegeversicherung defizitär, auch wegen eines abgesenkten Bundeszuschusses.

Personalie

Dr. Klaus Heckemann, langjähriger Vorsitzender der KV Sachsen, ist am Mittwoch von einer Sondersitzung der Vertreterversammlung aus seinem Amt abberufen worden. Die Entscheidung erging mit 28 der insgesamt 37 anwesenden Mitgliedern der Vertreterversammlung. Hintergrund der bislang einmaligen Entscheidung der ärztlichen Selbstverwaltung ist ein von Heckemann für das sächsische KV-Blatt verfasstes Editorial zu möglichen eugenischen Maßnahmen beim Verdacht auf erblich bedingte Seltene Erkrankungen. Angesichts der Kostenentwicklung bei der Diagnostik und Therapie dieser Krankheiten hatte Heckemann die Überlegung angestellt, wonach Frauen mit Kinderwunsch eine komplette Mutationssuche nach allen autosomal-rezessiven vererbbaren schweren Erkrankungen angeboten werden könne, um im Fall eines positiven Ergebnisses beider Elternteile durch eine In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik das Risiko für die Geburt eines schwerstkranken Kindes auszuschließen. Mit einer solchen "Eugenik in ihrem besten und humansten Sinne", so Heckemann, sollten Betroffenen Leid und zum anderen der GKV Kosten erspart werden. Diese Überlegungen lösten scharfen Protest insbesondere bei Betroffenen und ihren Selbsthilfeorganisationen wie der Allianz für Chronische Seltene Erkrankungen (ACHSE), aber auch der KBV, aus, die sich von Heckemanns Äußerungen scharf distanzierte. Auch der Hauptvorstand der KV Sachsen hatte sich ausdrücklich distanziert und sich entschuldigt. Der Vorstandsvorsitzende habe ein Mitgliedermedium genutzt und dabei eine Grenze überschritten, die missbilligt werde. Bereits im Vorfeld der Veröffentlichung sei von maßgeblichen Gremien gewarnt und von einer Publizierung abgeraten worden.