Was kann die Radiochirurgie beim SCLC erreichen?

Die Präzisionsstrahlentherapie beim kleinzelligen Bronchialkarzinom war ein spannendes Thema beim Jahreskongress der DGP. Zur Behandlung von Hirnmetastasen-Rezidiven wird die Radiochirurgie mittlerweile als bevorzugte Option betrachtet. Und in der Primärsituation?

Hirnmetastasen sind ein ewiges Problem – und Paradebeispiel für die Präzisionsstrahlentherapie

Die Präzisionsstrahlentherapie beim kleinzelligen Bronchialkarzinom war ein spannendes Thema beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP). Zur Behandlung von Hirnmetastasen-Rezidiven wird die Radiochirurgie mittlerweile als bevorzugte Option betrachtet. Und in der Primärsituation?

Provokantes Fallbeispiel: Hirnmetastasen als Zufallsbefund

Ein 68-jähriger Patient mit kleinzelligem Bronchialkarzinom (SCLC) am Übergang vom Stadium der Limited Disease zur Extensive Disease (LD/ED) befindet sich im Zustand nach thorakaler Radiochemotherapie und prophylaktischer Schädelbestrahlung (PCI). Beim Restaging nach 8 Monaten werden bei dem beschwerdefreien Mann als Zufallsbefund 9 Hirnmetastasen entdeckt. Wie sollten sie behandelt werden?

An der Klinik für Radioonkologie und Strahlentherapie des Universitätsklinikums Heidelberg wurden die Hirnmetastasen allesamt einer stereotaktischen Einzeitbestrahlung (SRS) unterzogen. "Das stößt vielen auf und ich sehe schon Kollegen die Stirn krausziehen", äußerte sich PD Dr. Stefan Rieken dazu. Der Radioonkologe ist leitender Oberarzt der Heidelberger Klinik und präsentierte kürzlich das hauseigene Fallbeispiel beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP).

"Globale Effekte durch lokale Präzision"

Dort trug er zum Thema "Globale Effekte durch lokale Präzision – Innovative Strahlentherapie in der interdisziplinären Onkologie" vor. Was ist damit gemeint? Zu globalen Effekten zählen solche jenseits des bestrahlten Volumens sowie Synergien mit systemischen Therapien, die    Verlängerung des Überlebens und die Minimierung der Toxizität. Lokale Präzision bedeutet, dass mit HighTech-Methoden nur ein lokaler Tumoranteil bestrahlt wird. Das erfolgt dosiseskaliert und unter möglichst niedriger Belastung des Normalgewebes. Im Zahlenbeispiel heißt das: 537 Strahlen über 161 Minuten bei einer durchschnittlichen Strahlenbelastung von 0,75 Gy.

Der Heidelberger Spezialist wählte den provokanten Fall, um das Prinzip der radiochirurgischen Hochpräzision zu veranschaulichen, die durch Präzision, Richtigkeit und Genauigkeit definiert ist. Hirnmetastasen treten beim fortgeschrittenen Lungenkarzinom häufig auf und stellen laut Rieken das Paradebeispiel für die Präzisionsstrahlentherapie dar. Bei SCLC-Patienten gibt es da allerdings Vorbehalte: "Häufig werde ich gefragt: Wie kommt man denn auf so eine Idee?  Es spricht doch alles gegen die Radiochirurgie!"

Überleben ist nicht alles – auch die Vermeidung von Nebenwirkungen zählt

Aber ist das wirklich wahr? In vielen Reviews kommen die Autoren tatsächlich zu diesem Schluss, so Rieken.  Ein aktuelles Beispiel ist ein Review1 zum State of the Art bei SCLC-Hirnmetastasen, erschienen im Fachjournal Oncotarget im September 2017. Für den strahlentherapeutischen Part des Papers zeichnet der US-amerikanische Experte Prof. Vinai Gondi (Northwestern Medicine Cancer Center Warrenville, Illionis) verantwortlich. Er stellt fest:  

In Tumorboards hört Rieken oft den Satz: "Ihr könnt die Patienten ohnehin nicht retten!" Das trifft leider häufig zu. Dem SRS-Experten geht es in solchen Fällen aber nicht um die Verlängerung des Überlebens, sondern um den Schutz der Patienten vor der Toxizität der Ganzhirnbestrahlung (whole brain radiation therapy, WRBT).

Die Leitlinien des In- und Auslands bieten in allen Situationen einer zerebralen Metastasierung einschließlich des Bronchialkarzinoms bisher nur die Ganzhirnbestrahlung als Option an. In der gerade erschienenen Aktualisierung der deutschen S3-Leitlinie "Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms" heißt es: "Patienten mit Hirnmetastasierung sollten frühzeitig im Therapieverlauf bestrahlt werden. Bei symptomatischer Hirnmetastasierung sollte die Ganzhirnbestrahlung unmittelbar nach Diagnosestellung erfolgen, bei asymptomatischer Hirnmetastasierung ist ein frühzeitiger Bestrahlungsbeginn anzustreben."

Die WBRT erzeugt neurokognitive Defizite, aber keinen relevanten Überlebensvorteil

Während zwar bis zu 80% der SCLC-Patienten Hirnmetastasen erleben, erhalten laut dem oben erwähnten Review nur 40 % der Patienten eine WBRT. Von diesen entwickeln allerdings über 60 % neurokognitive Defizite. Das geht nicht nur aus klinischen Tests hervor, sondern wird auch von den Patienten selbst beklagt. "Auch Patienten mit kleinzelligem Bronchialkarzinom leben lange genug, um diese Komplikationen zu erleben", so Rieken.

Die Neurotoxizität wäre möglicherweise zugunsten eines relevanten therapeutischen Benefits zu akzeptieren. Diesen gibt die Literatur nach Riekens Ansicht aber nicht her. So findet sich beispielsweise in einer Arbeit aus dem Jahr 2000 ein medianer Vorteil beim Gesamtüberleben von 0,3 Monaten und in einer Publikation von 2016 ein Zugewinn von 4,7 QUALY-Tagen (!). Fazit: "Die Ganzhirnbestrahlung erreicht nicht nur kaum einen, sondern keinen relevanten Überlebensvorteil. Sie kommt deshalb niemals bei einem Zufallsbefund, sondern nur bei klinischer Symptomatik in Betracht."

Die SRS ist die bevorzugte Option beim Hirnmetastasen-Rezidiv

Der Heidelberger Onkologe berichtete auch von einer eigenen Auswertung, die über 300 SCLC-Patienten nach Ganzhirnbestrahlung umfasste2. Das mediane Gesamtüberleben (OS) über das gesamte Kollektiv betrug 6 Monate. Für Patienten in gutem Allgemeinzustand, die bereits primär wenige zerebrale Metastasen aufwiesen, zeigte sich in der Analyse ein verbessertes Outcome von bis zu 20 Monaten.

Lohnt es sich bei ihnen, die Therapie zu eskalieren? Tatsächlich konnte in den kleinen Kohorten mit der stereotaktischen Behandlung bei Patienten, die nach WBRT bzw. nach PCI erneut Hirnmetastasen entwickelten, das mediane Überleben fast verdoppelt werden. Im Rezidiv ist die SRS sicherlich eine bedenkenswerte Option. Die aktuellen NCCN-Leitlinien (National Comprehensive Cancer Network) betrachten die SRS in dieser Indikation als bevorzugte Behandlungsmodalität.

Kommt sie auch in der Primärsituation in Betracht?

Und wie sieht es in der Primärsituation aus? In einer aktuellen Heidelberger Arbeit3 finden sich Hinweise auf den möglichen Nutzen einer primären Lokaltherapie. Hier wurden bei einer  Reihe von Patienten "aus klinischer Not heraus" einzelne Hirnmetastasen neurochirurgisch exstirpiert. Das eher unerwartete Ergebnis: Im Vergleich zu einer gematchten Kontrollgruppe, die nur mit WBRT behandelt wurde, konnte durch die zusätzliche Operation eine Vervielfachung des medianen Gesamtüberlebens erreicht werden (mOS = 19 vs. 3 Monate).

Das spricht für einen Einsatz der als "Operation ohne Messer" bekannten Radiochirurgie beim SCLC auch jenseits der Rezidiv-Indikation. Angesichts des infiltrativen Wachstums des kleinzelligen Brochialkarzinoms (periläsionale Infiltration: 60%; maximale Infiltrationstiefe: 1,07 mm) 4 ist dabei, anders als bei anderen Tumorentitäten, ein Sicherheitssaum zu berücksichtigen. Erste Evidenz-Hinweise zugunsten der SRS gibt es, wobei in der retrospektiven Analyse einer kleinen Patientenkohorte die Anzahl der behandelten Metastasen für das Ergebnis keine Rolle spielte.

Für die ersten Daten aus einer prospektiv-randomisierten Untersuchung wird der Heidelberger ENCEPHALON-Trial sorgen: In dieser Phase-II-Studie erfolgt ein Vergleich von WBRT und SRS in der Primärsituation bei 56 Patienten mit bis zu 10 Hirnmetastasen. Primärer Endpunkt ist die Neurokognition nach 3 Monaten, zu den sekundären Endpunkten zählen neben der Toxizität und der Lebensqualität verschiedene Überlebensparameter.

Thorakale Radiotherapie im Stadium "Extensive Disease" für alle?

Zur Frage der thorakalen Radiotherapie resümierte Rieken: „Die lokal-thorakale Hightech-Medizin kommt für den globalen Effekt der Überlebensverlängerung nach sorgfältiger Patientenselektion in Frage, die Ablation aller Metastasen für den globalen Effekt der Toxizitätsminimierung dagegen nicht.“

Strahlentherapie nicht wegen Immuntherapie verzögern!

Angesichts der Ära der Immuntherapie, in der sich die Onkologie gegenwärtig befindet, stellte Rieken fest: "Bisher ist kein Synergismus von Radiotherapie und Immuntherapie für das SCLC bekannt". Die Frage möglicher Effekte der kombinierten Anwendung auf das Immunsystem ist offen. Der Strahlentherapeut gab dem pneumologischen Publikum dafür folgende Botschaft mit: "Die Immuntherapie sollte die Strahlentherapie nicht nach hinten verschieben!"

Quelle:
Pneumologie im Prisma … der Onkologie. Präsidentensymposium beim 59. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP). Dresden, 16. März 2018

Referenzen:
1. Lukas RV et al. State-of-the-art considerations in small cell lung cancer brain metastases. Oncotarget 2017;8(41):71223-33
2. Bernhardt D et al. Outcome and prognostic factors in patients with small-cell lung cancer treated with whole brain radiotherapy. J Neurooncol 2017;134(1):205-21
3. Bernhardt D et al. Outcome and prognostic factors in single brain metastases from small-cell lung cancer. Strahlenther Onkol 2018;194(2):98-106
4. Baumert BG et al. A pathology-based substrate for target definition in radiosurgery of brain metastases. Int J Radiat Oncol Biol Phys 2006;66(1):187-94

Abkürzung:
QUALY/QALY = quality-adjusted life years