"Wir können fast alle Menschen aus ihrer Depression herausholen."

Fragen an Prof. Dr. Andreas J. Fallgatter, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen, zweiter Vorsitzender der neu gegründeten World Association for Stress Related and Anxiety Disorders (WASAD), die im September in Würzburg ihren ersten internationalen Kongress abhalten wird.

Stresskongress startet im September in Würzburg.

Fragen an Prof. Dr. Andreas J. Fallgatter, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums für Psychiatrie und Psychotherapie in Tübingen, zweiter Vorsitzender der neu gegründeten World Association for Stress Related and Anxiety Disorders (WASAD), die im September in Würzburg ihren ersten internationalen Kongress abhalten wird.  

Prof. Dr. Andreas J. Fallgatter Vorsitzender der WASAD

esanum: Stress – macht krank oder ist er nicht auch selbst eine Krankheit?

Fallgatter: Stress allein macht erst mal nicht krank und ist auch keine eigene Krankheit. Für sich allein ist er eine sinnvolle Reaktion des Organismus, um auf erhöhte Anforderungen zu reagieren. Er ist erst dann ein krankheitsauslösender Faktor, wenn er zu lange andauert und wenn eine Disposition zu einer Erkrankung vorliegt. 

Das betrifft vor allem Erkrankungen wie Depression, Angststörung und posttraumatische Belastungsstörung. Jeder Mensch, der depressiv wird oder eine Angststörung bekommt, hat eine gewisse biologische, genetisch vermittelte Anlage dazu. Es spielen in unterschiedlichem Ausmaß Umweltfaktoren eine Rolle, also zum Beispiel traumatische Erfahrungen in der Kindheit - und dann kommt schließlich Stress hinzu, der die Krankheit auslösen kann.

esanum: Was ist überhaupt Stress? Was passiert da im Körper?

Fallgatter: Das kann man biochemisch und neurophysiologisch fassen. Stress wird im Hypothalamus gemeldet. Wenn erhöhte Anforderungen an den Organismus gestellt werden, wird das Hormon CRH ausgeschüttet, das auf die Hypophyse wirkt. Daraufhin wird ACTH ausgeschüttet und das wirkt an der Nebennierenrinde und löst die Ausschüttung von Glukokortikoiden aus. Das sind diejenigen Stoffe, die den Stress vermitteln und die mit dafür sorgen, dass der Körper in Stresssituationen leistungsfähiger wird.

esanum: Wird Stress nicht auch in vielen Fällen selbst kreiert?

Fallgatter: Menschen sind natürlich unterschiedlich belastbar. Es kommt immer darauf an, wie man mit Anforderungen umgeht. Abgesehen von Dingen, die von außen kommen, etwa der Tod eines Angehörigen oder eine Trennung, kommt es auf die täglichen kleinen Stressspitzen an. Und die kann man in hohem Maße selbst beeinflussen.

esanum: Welcher Umgang mit unvermeidlichem Stress ist gesund?

Fallgatter: Ein wesentlicher Faktor ist die innere Einstellung. Gesund wäre, die Dinge manchmal nicht so wichtig zu nehmen und damit den Druck zu senken. Denn unser leistungsbezogenes Denken ist natürlich ein großer Stressfaktor.

Dabei sind es einige Dinge  gar nicht wert, dass wir uns von Ihnen unter Stress setzen lassen. Wenn man sie mit etwas Abstand betrachtet, erkennt man das. Dann kann man die Anforderungen relativieren und achtsamer mit sich umgehen. Zum Beispiel darauf achten, dass die Tage nicht völlig ausgefüllt sind mit Anforderungen, sondern dass man eine ausgewogene Balance hat, dass also nach einer Anforderung eine Erholungsphase kommt, etwas, das man gern macht und dass man genauso wichtig findet wie Leistung. Hierauf fokussieren auch psychotherapeutische Therapieansätze, wie Achtsamkeitstraining und Entspannungsrituale.

esanum: Was ist mit permanenten Störfeuern, wie unlösbaren Problemen des Lebens - Alter, Krankheit, Sorgen usw.?

Fallgatter: Man sollte sein Leben reflektieren und versuchen, einen gelasseneren Umgang damit zu finden. Gegen das Altern zum Beispiel kann niemand etwas machen, aber man kann mit Sport erreichen, dass man biologisch jünger bleibt. Und es hilft, schwere Situationen auszuhalten, wenn man Erfüllung im Leben sucht.

esanum: Wie gehen Sie persönlich mit Stress um? Haben Sie ein Hausmittel?

Fallgatter: Ich versuche, realistische Tagespläne zu machen. Und überlege jeden Morgen zusammen mit meiner Sekretärin, was geht und was anders geplant werden muss: Lieber einen Termin weniger, auch mal einen verschieben, als mich zu sehr unter Druck setzen zu lassen. Ich versuche bei Terminkonflikten, das Ganze zu entzerren.

esanum: Welche Erkrankungen sind mit Stress assoziiert?

Fallgatter: Alle psychischen Erkrankungen und auch viele körperliche Erkrankungen. Jeder Mensch hat Organe, die auf Belastungen sensibel reagieren. Bei dem einen ist es der Magen, bei dem anderen der Darm. Die Haut reagiert auch oft auf Stress. Auch der Herzinfarkt ist stressassoziiert.

esanum: Wenn Stress so viele schwere Folgen hat, welche Schlüsse muss die Gesellschaft daraus ziehen?

Fallgatter: Das Hauptthema ist natürlich Prävention. Das steht auch auf der politischen Agenda vieler Parteien. Es gibt längst Gesetze, die versuchen, bessere Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu gehören ergonomische Arbeitsbedingungen. Man beginnt jetzt auch, mehr auf psychische Stressfaktoren zu achten.

Große Firmen machen das, indem sie Pausen vorschreiben, in denen gemeinsam etwas Sportliches gemacht wird. Ein Faktor, der jetzt immer mehr ins Blickfeld kommt, ist die Tatsache, dass dieselbe Arbeit von demjenigen als weniger stressvoll empfunden wird, der mehr Entscheidungsfreiheit hat. Stress wird immer dann besonders stark empfunden, wenn man keine Chance hat, Einfluss zu nehmen, nichts am Ablauf ändern kann.

Gute Vorgesetzte schaffen es, ihren Mitarbeitern – angepasst an deren Fähigkeiten - Freiheiten zu geben, wo sie eigenverantwortlich entscheiden können. Die Firmen haben daran ein Interesse, weil die Fehlzeiten aufgrund von psychischen Erkrankungen rasant ansteigen. Sie sind der zweithäufigste Grund für Krankschreibungen und ziehen die längsten Ausfallzeiten nach sich. Auch als Grund für Frühberentungen sind psychische Erkrankungen im Ansteigen. Deswegen haben viele Unternehmen erkannt, dass Stressprävention günstiger ist, als es so laufen zu lassen wie bisher.

esanum: Was kann der Einzelne tun, um sich zu schützen?

Fallgatter: Es kommt sehr auf die eigene Lebensführung an. Dazu gehört, den eigenen Körper nicht als Maschine mit unbegrenzter Lebensdauer zu sehen. Ein Beispiel: Wir alle wissen, dass im höheren Lebensalter Demenz droht. Jetzt gibt es interessante Daten aus mehreren Längsschnittstudien, die zeigen, dass die Zunahme der Alzheimer-Erkrankung in Mitteleuropa nicht in dem Maße stattfindet, wie wir das wegen der Alterung der Gesellschaft noch vor kurzem geglaubt haben.

Vermutlich sind dafür viele Faktoren verantwortlich: Große Teile der Bevölkerung sind inzwischen körperlich aktiver, achten besser auf die Ernährung und insgesamt ist das Bildungsniveau gestiegen. Das ist ein Beispiel eines präventiven Ansatzes, das zeigt, dass man auf körperliche Fitness, auf soziale Kontakte, auf gesunde ausgewogene, mediterrane Ernährung achten muss. Das ist das Beste, was man tun kann, um die Wahrscheinlichkeit von Alzheimer-Erkrankung, von kardiovaskulären Erkrankungen und auch Depressionen zu verringern.

Das sollte man wissen und versuchen, das auch im Alltag umzusetzen. Deswegen denke ich, dass Bildung ein wesentlicher Aspekt für die Gesundheit ist, der gesellschaftlich unbedingt gefördert werden muss.

esanum: Wie ist der neuste Forschungsstand, worauf konzentriert sich die Wissenschaft?

Fallgatter: Wir versuchen, die stressbezogen Erkrankungen und ihre Mechanismen besser zu verstehen. Es ist gar nicht so bekannt, aber die meisten psychischen Erkrankungen werden sehr erfolgreich behandelt - mit einer Kombination von psychotherapeutischen, pharmakologischen und biologischen Methoden.

So können wir fast alle Menschen aus ihrer Depression herausholen. Dennoch müssen wir die pathophysiologisch zugrunde liegenden Prozesse noch besser verstehen. Es gibt bei Depressionen, Schizophrenien und Angststörungen verschiedene Unterformen, die einen unterschiedlichen Anteil an genetischen, psychologischen, psychosozialen und biologischen Ursachen haben – wobei eben auch Stress eine große Rolle spielt.

Ein Forschungsthema ist: wie können wir die großen Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, in bestimmte Untergruppen einteilen, um sie noch differenzierter zu behandeln, weil man so besser entscheiden kann, welche der vielen Behandlungsstrategien im Einzelfall am Besten  hilft.

esanum: Was wird gebraucht, um hier voranzukommen?

Fallgatter: Wir wünschen uns ein Deutsches Zentrum für Psychische Erkrankungen, in dem die Forschungsenergien gebündelt werden, und für das auch mehr Geld als bisher zur Verfügung steht. Qualitativ hochwertige Forschung ist heute interdisziplinär und muss auf große Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Expertisen verteilt werden. Wenn man relevante Therapiestudien machen will, braucht man große, multidisziplinär angelegte Studien, die einzelne Universitäten nicht leisten können.

esanum: Für andere Erkrankungen gibt es diese Deutschen Forschungszentren längst. Warum nicht für psychische Erkrankungen?

Fallgatter: Das ist eine Frage der Ressourcen. Und es liegt meiner Meinung nach auch ein bisschen daran, dass psychische Erkrankungen immer noch in gewissem Maße stigmatisiert werden - obwohl es ohne Zweifel auch hier Fortschritte gibt. Hilfreich war, dass Prominente sich bekannt haben, depressiv zu sein, dass zum Beispiel die Witwe von Robert Enke die Krankheit ihres Mannes publik gemacht hat. Doch Aufklärung ist auf allen gesellschaftlichen Ebenen weiter wichtig.

esanum: Worüber wird im September beim WASAD-Kongress diskutiert werden?

Fallgatter: Dort kommen zum erstenmal Experten aus der ganzen Welt zusammen, die auf diesem Gebiet forschen. Ein großes Thema werden bildgebende Untersuchungen des Gehirns sein. Was ist strukturell und funktionell verändert im Gehirn von Menschen mit stress-assoziierten Erkrankungen? Welche Regionen im Gehirn sind aktiv, wenn wir Stress und Gefühle regulieren?

Auch die genetische Verursachung von psychischen Erkrankungen und wie diese in die Stressregulation eingreifen, wird beleuchtet. Die Epigenetik ist ein weiteres großes Thema. Da geht es um die Mechanismen, wie bestimmte Gene zu bestimmten Zeitpunkten des Lebens an- und abgeschaltet werden.

Und nicht zuletzt widmen wir uns der Resilienz. Man versucht, von der anderen Seite zu schauen: Was zeichnet den Menschen aus, der mit den gleichen Stressfaktoren gar keine Probleme hat? So kann man vielleicht auch neue Behandlungsmöglichkeiten finden, die in die Therapie einfließen können.