Multiple Sklerose: Benefit einer möglichst frühen Diagnose vs. Risiko einer falschen Diagnose

Fehldiagnosen von MS bleiben ein Problem in der klinischen Praxis. Betroffene sind oft langfristig unnötigen Gesundheitsrisiken und Morbidität ausgesetzt. Fehlanwendung der diagnostischen Kriterien und falsche Bewertung unspezifischer Befunde sind häufige Gründe.

Fehldiagnosen von MS bleiben ein Problem in der klinischen Praxis. Betroffene sind oft langfristig unnötigen Gesundheitsrisiken und Morbidität ausgesetzt. Fehlanwendung der diagnostischen Kriterien und falsche Bewertung unspezifischer Befunde sind häufige Gründe.

Das Editorial der offiziellen Zeitschrift der American Academy of Neurology (AAN) widmete sich kürzlich  einem wichtigen Problem in der neurologischen Praxis: MS-Spezialisten begegnen häufig Patienten, die irrtümlich unter MS liefen, in etwa einem Drittel der Fälle über Zeiträume von 10 Jahren hinweg und mehr.1,2

"Wer als Werkzeug einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel"

...sagte einst Paul Watzlawick. Am häufigsten sind es relativ gängige Erkrankungen, die zu Fehldiagnosen von MS führen, insbesondere wenn MRTs Läsionen der weißen Substanz zeigen. Eine Auswertung fehldiagnostizierter Patienten ergab bei 22 % stattdessen eine Migräneerkrankung, bei 15 % Fibromyalgie, bei 11 % funktionelle neurologische Störungen, bei 12 % unspezifische neurologische Störungen mit auffälligem MRT und bei 6 % Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen.Doch auch eine große Anzahl seltener genetischer, metabolischer, vaskulärer und entzündlicher Erkrankungen kommen als Differentialdiagnosen zu MS in Betracht.1

Fehldiagnosen können schwerwiegende Konsequenzen haben. Patienten sind möglicherweise den Risiken einer Behandlung mit krankheitsmodifizierenden Medikamenten (DMDs) ausgesetzt, betreuende Neurologen können in medikolegale Auseinandersetzungen geraten und ein bereits überlastetes Gesundheitssystem muss unnötige Basistherapeutika und deren Monitoring finanzieren.1
In der oben genannten Analyse wurden 70 % der fehldiagnostizierten Patienten DMDs verschrieben, 4 % wurden in MS‑Therapiestudien eingeschlossen und 31 % erlitten unnötige Morbidität durch die Fehldiagnose. Bei 72 % der Betroffenen konnte eine frühere Gelegenheit zur Stellung der korrekten Diagnose identifiziert werden.2

Rolle der 2017 aktualisierten McDonald-Kriterien

Führende Faktoren, die bislang zu Fehldiagnosen beitrugen, waren:

Die 2017 veröffentlichte Revision der MS-Diagnosekriterien soll u. a. eine möglichst frühe Diagnosestellung ermöglichen, enthält aber auch einige neue Empfehlungen, die die Wahrscheinlichkeit für Fehldiagnosen reduzieren sollen.

Die Behandler befinden sich in einem Spannungsfeld. Verzögerungen bei Diagnosestellung und Therapiebeginn einer MS sind mit einem höheren Risiko für Behinderung assoziiert. Dadurch stehen Ärzte unter Druck, bei Patienten, deren Diagnose noch unsicher ist, therapeutische Entscheidungen zu treffen.3

"Think twice" approach und strikte Adhärenz an diagnostische Kriterien

Die Interpretation klinischer und radiologischer Untersuchungen lässt weiterhin Spielraum für Fehldiagnosen. Insbesondere bei Patienten mit atypischen Befunden können die revidierten McDonald-Kriterien nicht ohne Weiteres angewendet werden. Weitere Abklärung (klinisch, laborchemisch, radiologisch) und Beobachtung – anstelle einer sofortigen Diagnosestellung – und große Umsicht sind hier nötig. Die neuen Kriterien sollten auf die Patientenpopulationen angewendet werden, mit denen die Validierungsstudien durchgeführt wurden (v. a. Patienten mit typischen demyelinisierenden Syndromen).4

Da sowohl unspezifische Läsionen der weißen Substanz und andere bildgebende Befunde, die eine MS vortäuschen können, als auch MS‑unspezifische Läsionen bei Patienten mit MS zu finden sind, sollten Neurologen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und MRTs unabhängig vom Befund des Radiologen bewerten können.
Verschiedene systemische Erkrankungen können mit MS‑verdächtigen klinischen und/oder radiologischen Zeichen einhergehen. Bei den meisten jedoch können eine gründliche Anamnese und körperliche Untersuchung die Symptome der systemischen Erkrankung aufdecken und ein umfangreiches Labor, detaillierte neurologische Untersuchung und Liquordiagnostik können bei der Klarstellung helfen.5

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Referenzen:
1. Brownlee, W. J. Misdiagnosis of multiple sclerosis: If you have a hammer, everything looks like a nail? Neurology (2018). doi:10.1212/WNL.0000000000006584
2. Solomon, A. J. et al. The contemporary spectrum of multiple sclerosis misdiagnosis: A multicenter study. Neurology 87, 1393–1399 (2016).
3. Solomon, A. J. & Corboy, J. R. The tension between early diagnosis and misdiagnosis of multiple sclerosis. Nature Reviews Neurology 13, 567–572 (2017).
4. Solomon, A. J., Naismith, R. T. & Cross, A. H. Misdiagnosis of multiple sclerosis: Impact of the 2017 McDonald criteria on clinical practice. Neurology (2018). doi:10.1212/WNL.0000000000006583
5. Siva, A. Common Clinical and Imaging Conditions Misdiagnosed as Multiple Sclerosis: A Current Approach to the Differential Diagnosis of Multiple Sclerosis. Neurol Clin 36, 69–117 (2018).