Krebs als Erkrankung des Stoffwechsels

Obwohl der Tumormetabolismus zunehmende Aufmerksamkeit erhält, wird Krebs gemeinhin als genetische Erkrankung angesehen. Diese Sichtweise durchläuft aktuell eine ernsthafte Re-evaluation.

Obwohl der Tumormetabolismus zunehmende Aufmerksamkeit erhält, wird Krebs gemeinhin als genetische Erkrankung angesehen. Diese Sichtweise durchläuft aktuell eine ernsthafte Re-evaluation.1

Wenn man sich mit den folgenden Fragen näher beschäftigt, kommt man an einem Pionier in der Weiterentwicklung von Krebsforschung und -therapie nicht vorbei: Dr. Thomas Seyfried, Professor für Biologie am Boston College und Autor des wegweisenden Buches "Cancer as a metabolic disease". Er erhielt seinen Ph.D. in Genetik und Biochemie an der Universität Illinois, bevor er an der Universität Yale als Assistenzprofessor der Neurologie arbeitete. Bislang wirkte er an über 180 peer-reviewten Publikationen mit und wurde mit diversen Awards ausgezeichnet.

Sie haben vielleicht von außerordentlich spannenden Experimenten wie dem folgenden gehört: Forscher transferierten Tumorzellkerne in gesunde Zellen mit normalem Zytoplasma und erhielten durch Kultivierung: normale Zellen – und zuweilen sogar normale Gewebe. Und dies aus dem Nucleus einer Tumorzelle, von dem immer gedacht wird, dass er die Mutationen trägt, die für die Erkrankung ursächlich sind.1–3 Doch wenn sie den Nucleus einer normalen Zelle mit dem Zytoplasma einer Tumorzelle fusionierten, erhielten sie: tote Zellen oder Tumorzellen.
Was die Forscher u. a. entdeckten: gesunde Mitochondrien können die Tumorentstehung supprimieren. Und was auch immer die Mutationen im Zellkern sein mögen, sie scheinen zumindest nicht das zu sein, was die Tumorerkrankung antreibt.1

Der gestörte Metabolismus von Tumorzellen

Den auf einen der führenden Biochemiker seiner Zeit zurückgehenden Grundgedanken von Krebs als mitochondrieller oder metabolischer Erkrankung hatten wir in diesem länger zurückliegenden Beitrag bereits gestreift. Es war Otto Warburg, der bereits 1926 postulierte, dass Krebs aus Defekten in der Zellatmung entsteht. Er beobachtete, dass Tumorzellen auch in Anwesenheit von Sauerstoff ihre Energie mittels Glykolyse (Vergärung von Glukose zu Laktat) gewinnen. Tumorzellen können die unterschiedlichsten Mutationen aufweisen. Aber diese Verschiebung von der Atmung (also der oxidativen Phosphorylierung) hin zur Gärung ist das definierende metabolische Kennzeichen, welches allen Krebszellen gemeinsam zu sein scheint, wenn auch zu unterschiedlichem Grade. Die Tumorzelle kompensiert ihre Defizite in der Atmung durch Gärung, um zu überleben und die bioenergetischen und biosynthetischen Anforderungen an stetiges Wachstum zu erfüllen.4 Infolgedessen werden Glukose und Glutamin zu den Hauptenergielieferanten für das fehlregulierte Wachstum von Tumoren. 

Provokante Frage: Beginnt wirklich alles mit genomischen Veränderungen?

Dr. Seyfried geht nach experimentellen Arbeiten, wie der eingangs genannten, einen Schritt weiter und fragt uns: warum konzentrieren wir uns auf die unzähligen verschiedenen somatischen Mutationen im Zellkern, anstatt auf das Merkmal, was all diese Zellen eint: es scheint keine Krebszelle zu geben, deren Mitochondrien nicht in irgendeiner Form auffällig sind. Neben vielen Studien zeigt er in einem sehr sehenswerten Vortrag exemplarisch ein elektronenmikroskopisches Bild eines Mitochondriums aus einer Glioblastomzelle. Es sieht innen fast leer aus, die typischen Einstülpungen der inneren Membran (Cristae) fehlen, daher sprechen wir auch von Crystolyse.5 Ein solches Organell mit so wenig Membranoberfläche kann Sauerstoff nicht effizient zur Energieproduktion nutzen, es muss Gärung betreiben und Lactat bilden.
Was wäre, wenn die genomische Instabilität von Tumoren – die Mutationen in Tumorsuppressorgenen oder Onkogenen – Downstream-Effekte eines gestörten Zellenergiestoffwechsels sind?1

Warum haben wir solche Schwierigkeiten damit, dies in unsere Prävention und Therapie zu implementieren?

Eine wachsende Anzahl von Studien weisen den Energiestoffwechsel von Tumoren als enorm vielversprechendes Target aus, doch Forscher wie Prof. Seyfried haben aus irgendeinem Grund Probleme, ihre Arbeit finanziert zu bekommen.
Wir müssen stark vereinfachte Ernährungsratschläge ebenso hinter uns lassen wie Diäten, die unter Nichtbeachtung von individueller Stoffwechselsituation, Anforderungen und Begleiterkrankungen quasi jedem das Gleiche empfehlen. Da jedes Individuum eine einzigartige metabolische Entität ist, meint Prof. Seyfried, dass eine personalisierte metabolische Therapie ein Fein-Tuning an die individuellen physiologischen Gegebenheiten erfordert.1

Fast die gesamte Nahrungsmittelindustrie ist durchsetzt von Jahrzehnte alten Fehlannahmen darüber, was gesund oder ungesund sei. Jahrelang wurden Fette zum Übeltäter erklärt und mehr und mehr Kohlenhydrate und Zucker stehen seither auf unserem Speiseplan. Wir kennen sie alle, die Ernährungspyramide, wir sollen ausreichend Getreide essen usw. Seit 1980 erscheinen fünfjährlich diese pauschalen "dietary guidelines". Wenn dies stoffwechselphysiologisch für die Mehrheit der Menschen zutreffen würde, warum geht dann unser Gesundheitssystem heute schon in die Knie unter der Herkulesaufgabe, Adipositas, kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes und deren Komplikationen zu versorgen? Die Übergewichtsepidemie in den USA begann relativ punktgenau kurz nach der Einführung der Ernährungsleitlinien: nach 1980 sehen wir plötzlich einen explosiven Anstieg der Inzidenzen, der sich seither weiter fortsetzt und dies wird, wie Krebs auch, unser System an die Grenzen dessen bringen, was wir zu zahlen und zu behandeln imstande sind.
Wir geben Milliarden für Forschung und Therapie von Krebs aus, doch die Inzidenzen und die Anzahl derer, die täglich daran versterben, nehmen weiter zu. Prof. Seyfried ist sicher: wenn wir Krebs vermeiden wollen, müssen wir Ernährungs- und Lebensgewohnheiten identifizieren und vermeiden, die Mitochondrien schädigen.

Lesen Sie im Beitrag nächster Woche mehr zu therapeutischen Strategien für das metabolische Management von Tumorerkrankungen und über deren Ergebnisse in Kombination mit onkologischen Standardtherapien.

Referenzen:
1. Seyfried, T. N., Flores, R. E., Poff, A. M. & D’Agostino, D. P. Cancer as a metabolic disease: implications for novel therapeutics. Carcinogenesis 35, 515–527 (2014).
2. Kaipparettu, B. A. et al. Crosstalk from non-cancerous mitochondria can inhibit tumor properties of metastatic cells by suppressing oncogenic pathways. PLoS ONE 8, e61747 (2013).
3. Thomas Seyfried: Cancer: A Metabolic Disease With Metabolic Solutions. Available at: https://www.youtube.com/watch?v=SEE-oU8_NSU&t=678s. (Accessed: 29th September 2019)
4. Coller, H. A. Is Cancer a Metabolic Disease? Am J Pathol 184, 4–17 (2014).
5. Arismendi-Morillo, G. Electron microscopy morphology of the mitochondrial network in human cancer. Int. J. Biochem. Cell Biol. 41, 2062–2068 (2009).