Das Problem Multimedikation ist inzwischen auch bei der WHO angekommen. Sie definiert Multimedikation als fünf oder mehr Medikamente, die dauerhaft eingenommen werden. „Europaweit sehen wir eine enorme Prävalenz der Polypharmazie“, so Müller-Werdan. Das gilt auch für die Definition des Begriffs „Polypharmazie“. In einer europaweiten Erhebung aus dem Jahr 2021 wurden 143 Definitionen von Polypharmazie gefunden.
Müller-Werdan nannte einige praxisorientierte Bewertungshilfen für De-Prescribing:
- Fit-fOR-The-Aged (FORTA)-Liste
- PRISCUS-2.0-Liste
- Cochrane Library Special Collection on deprescribing
- European Geriatric Medicine Volume 14, August 2023: Deprescribing dilemmas in patients at risk of falls (645-760)
Allerdings stimmen die Bewertungshilfen nicht immer überein, teilweise werden unterschiedliche Substanzen identifiziert und bewertet. Es gibt also keinen Goldstandard, was als „schlechte Medikation“ oder „gefährlicher als andere Medikamente“ zu werten wäre, erklärte Müller-Werdan. Im Alter sei Multimorbidität die Regel und nicht die Ausnahme. Diese trete in Clustern auf, deshalb sind drei Medikamentengruppen häufig bei Polypharmazie vertreten:
- Kardiovaskuläre Medikamente
- Psychopharmaka
- Schmerzmedikamente
„In der Praxis kann man sich orientieren, indem man eine Musteranalyse durchführt.“ Sie selbst spare bei kardiovaskulären Medikamenten so gut wie nichts ein, berichtet Müller-Werdan. „Wir können nicht riskieren, durch De-Prescribing eine Herzinsuffizienz zu destabilisieren.“ Relatives Einsparpotenzial sieht die Expertin hingegen bei den psychotropen Medikamenten. Ein Blick in die FORTA-Liste zu Herzinsuffizienz zeigt: Fast alle Medikamente erhalten die Bestnote A.
Die PRISCUS-Liste geht hingegen einen anderen Weg und führt potenziell inadäquate Medikamente auf. Bei der Herztherapie stuft PRISCUS ein paar übliche Verdächtige wie Digoxin und Antiarrhythmika als nicht geeignet ein. „Insgesamt kann man jedoch sagen: Good News für die Herz-Kreislauf-Medizin“, konstatierte Müller-Werdan.
Dennoch bleibt die Sorge, dass Medikamente Stürze verursachen können. Bei den kardiovaskulären Arzneimitteln gehören Antihypertensiva und Digoxin dazu, bei den psychotropen Arzneimitteln sind das Anxiolytika, Sedativa, Neuroleptika und Antidepressiva. In einem Review aus dem Jahr 2018 wurde die Sturzförderung verschiedener kardiovaskulärer Medikamente untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass die Odds Ratio nicht so schlecht aussieht. Negativ hervorzuheben sind Digitalis und Digoxin, aber bei allen anderen – auch bei Antihypertensiva – sei die sturzfördernde Wirkung nicht dramatisch, berichtete Müller-Werdan.
Gute und relevante Orientierungshilfen bieten die No-Gos bei Medikamentenkombinationen der Klug-entscheiden-Initiative der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM). Sie raten von folgenden Kombinationstherapien ab:
- Citalopram/Escitalopram und Makrolide
- ACE-Hemmer und Sartane, auch nicht in Kombination mit Renin-Inhibitoren.
- Bei einer Kombinationstherapie von Diuretika und RAS-Blockern sollten NSAR wegen des erhöhten Risikos für ein ANV nicht eingesetzt werden.
- Bestimmte Opioide sollten nicht mit Clarithromycin P 3A4 kombiniert werden.
- Rifampicin interagiert mit vielen Medikamenten. Es soll vor allem nicht gleichzeitig mit NOAKs verabreicht werden.
- Die Kombination aus NSAR und systemisch wirksamen Glukokortikoiden nicht ohne PPI-Schutz.
Müller-Werdan sagte, dass sie bei alten Menschen ungern Statine absetze. Denn der Benefit sei bei alten Menschen eher besser als bei Jüngeren. Nur in der End-of-Life-Phase könne man auf das Statin verzichten, was auch so empfohlen wird. Wenn ein Patient aber noch eine entsprechende Lebenserwartung hat und selbstständig lebt, verzichtet Müller-Werdan nicht auf die Statingabe. Auch das Absetzen von Blutdrucksenkern im hohen Alter sollte wohl überlegt sein. Die OPTIMISE-Studie hat gezeigt, dass das Absetzen von Blutdrucksenkern keinen Nutzen für die Patienten im Alter von über 80 Jahren bringt.
Für einen guten Umgang mit Multimedikation gilt grundsätzlich:
- Einfache Lösungen zur Verringerung gibt es oft nicht.
- Polypharmazie allein quantitativ zu beschreiben greift zu kurz, problematische Muster müssen erkannt werden.
- Ein De-Prescribing kann hilfreich sein, bleibt aber nur ein Element einer umfassenden Strategie, um die Adhärenz zu verbessern.
- In einem rationalen De-Prescribing-Prozess sollten Funktionalität und Lebens- bzw. Krankheitsphase des Patienten berücksichtigt werden, um unterschiedliche Therapieziele zu priorisieren.
- Bei jedem neu auftretenden Symptom sollte eine kritische Medikationsanalyse erfolgen, um potenziell unerwünschte Wirkungen zu erkennen und um Therapiekaskaden zu vermeiden.
- 91. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), 23. bis 26. April 2025, Congresscentrum Rosengarten, Mannheim. Sitzung: Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe doch auf morgen – neue Perspektiven der Kardiologie im Alter, 25. April 2025.
- Junius-Walker E, Thürmann PA, Jansen J, et al. The European Academy for Medicine of Ageing (EAMA) Survey on polypharmacy management by European geriatricians. Eur Geriatr Med. 2021;12(3):551-560. doi:10.1007/s41999-021-00477-0
- Wehling M. FORTA-Liste 2021. Universität Heidelberg, Universitätsmedizin Mannheim. 2021. Verfügbar unter: https://www.umm.de/docs/klinikum/Med_4/FORTA-Liste_2021.pdf
- Seidling HM, Mahler C, Strauß L, et al. Potentially inadequate medications in the elderly (PRISCUS 2.0): first update of the PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int. 2023;120(11):191-197. doi:10.3238/arztebl.m2023.0089
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- Thürmann PA, Blome C, Schneider A, et al. Klug entscheiden in der Inneren Medizin – No-Gos bei Medikamentenkombinationen. Dtsch Arztebl. 2015;112(12):197-204. Verfügbar unter: https://www.klug-entscheiden.com/fileadmin/user_upload/Deutsches_AErzteblatt_Heft_12_-Klug_entscheiden-_NoGos_bei_Medikamentenkombis.pdf
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