Prof. Fritsche im Interview: Die Bedeutung von Stoffwechselkontrollen bei modernen Krebstherapien

Diabetes als unerwünschte Nebenwirkung: Warum Stoffwechselkontrollen bei Krebstherapien entscheidend sind.

Interview mit Prof. Andreas Fritsche

esanum: Herr Professor Fritsche, Sie fordern zusammen mit der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG)  und der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) regelmäßige Stoffwechselkontrollen im Rahmen von Krebstherapien. Warum ist das so wichtig?

Prof. Andreas Fritsche: Diese Forderung bezieht sich spezifisch auf Krebstherapien mit sogenannten Checkpoint-Inhibitoren. Das sind Medikamente, die das Immunsystem gegen Krebszellen aktivieren. Eine ernstzunehmende Nebenwirkung dieser Therapien ist eine bestimmte Form von Diabetes, der sogenannte CIADM (Checkpoint-Inhibitor-Associated Autoimmun-Diabetes).

Steigende Relevanz von CIADM bei Krebstherapien

Checkpoint-Inhibitoren kamen 2014 auf den Markt, zunächst zur Behandlung von schwarzem Hautkrebs und Nierenzellkrebs. Mittlerweile werden sie aber gegen sehr viele Krebsarten eingesetzt, und die Anzahl der damit behandelten Patienten steigt stetig. Es gibt inzwischen rund 90 Indikationen zur Krebstherapie, für die diese Medikamente zugelassen sind. Daher gewinnt die Nebenwirkung des CIADM zunehmend an Relevanz.

Diese Inhibitoren wirken, indem sie Moleküle auf der Oberfläche von Krebszellen blockieren. Krebszellen exprimieren nämlich bestimmte Moleküle, die das Immunsystem hemmen und die Krebszellen so vor der körpereigenen Abwehr schützen. Die Antikörper der Checkpoint-Inhibitoren richten sich gegen diese Moleküle, sodass das Immunsystem die Krebszellen wieder angreifen kann. Die unerwünschte Nebenwirkung ist, dass das Immunsystem dabei auch andere gesunde Zellen im Körper attackiert. Sehr häufig betroffen sind Drüsengewebe, also hormonproduzierende Zellen wie die Schilddrüse, Nebennierenzellen oder die Hirnanhangsdrüse, und auch Leber-, Darm- oder Hautgewebe können angegriffen werden.  Aber eben auch die Insulin produzierenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse sind betroffen.  Das ist ein großes Problem, denn der daraus resultierende insulinpflichtige Diabetes kann leider oft übersehen werden. 

esanum: Seit wann ist das bekannt?

Prof. Andreas Fritsche: Checkpoint-Inhibitoren werden seit 2014 eingesetzt. Die ersten Beschreibungen der Nebenwirkungen folgten dann drei, vier oder fünf Jahre später. Zunächst wurde angenommen, dass diese Nebenwirkungen sehr selten sind. Doch die Häufigkeit nimmt deutlich zu. Das liegt zum einen daran, dass immer mehr dieser Medikamente zum Einsatz kommen, und zum anderen wurde die tatsächliche Häufigkeit anfangs wahrscheinlich unterschätzt.

esanum: Können Sie beziffern, wie häufig dieser Diabetes auftritt?

Prof. Andreas Fritsche: Leider gibt es in Deutschland kein verlässliches Register, das erfasst, wie viele Menschen mit Checkpoint-Inhibitoren behandelt werden. Wenn wir aber von einer Schätzung von 100.000 behandelten Krebspatienten ausgehen – was eine relativ wahrscheinliche Zahl ist – und davon ausgehen, dass nur 1% diese Nebenwirkung entwickelt, dann sind das immerhin 1.000 Patienten pro Jahr. Das ist eine beachtliche Zahl, denn es handelt sich um sehr problematische Fälle.

esanum: Geht es vor allem darum, diese Fälle schnell zu erkennen?

Prof. Andreas Fritsche: Ja, genau. Um den betroffenen Patienten zu beschreiben: Es sind oft ältere, multimorbide Patienten mit einer Krebserkrankung, die bereits viele andere Medikamente erhalten. Und diese Patienten entwickeln dann einen CIADM, dessen Verlauf stark einem Typ-1-Diabetes ähnelt. Das heißt, der Blutzucker steigt sehr schnell an, und es besteht eine hohe Gefahr einer Ketoazidose – mehr als die Hälfte der Patienten ist davon betroffen. Eine Ketoazidose ist lebensgefährlich: Das Blut wird sauer, der Blutzucker steigt, und man kann ins Koma fallen und sterben. Wenn man das nicht rechtzeitig erkennt, wird es wirklich problematisch. Es sind eben keine jungen Menschen im Alter von 10 oder 20 Jahren, die normalerweise Typ-1-Diabetes bekommen, sondern ältere, multimorbide Patienten. Sie müssen erkannt und dann wie ein Typ-1-Diabetiker behandelt werden, mit mehrmaligen Insulinspritzen täglich, kontinuierlichen Gewebezuckermessungen und so weiter. Das ist für diese Patienten extrem schwierig und erfordert ein Team von Spezialisten, die sich gut damit auskennen.

Erforderliche Maßnahmen und politische Herausforderungen

esanum: Das heißt, es muss nicht nur erkannt, sondern auch entsprechend betreut und behandelt werden. Kaum vorstellbar, dass diese Expertise im onkologischen Bereich vorhanden ist.

Prof. Andreas Fritsche: Ja, genau deshalb fordern wir, dass in onkologischen Zentren, wo solche Therapien häufig durchgeführt werden, immer auch ein Diabeteszentrum vorhanden sein muss. Solche Therapien werden bisher hauptsächlich in großen Kliniken und Zentren durchgeführt, die viele solcher Patienten sehen. Dort sollte immer ein Diabetes-Spezialist und eine Diabetes-Fachabteilung vorhanden sein, idealerweise auch gemeinsam mit einer endokrinologischen Fachabteilung. Denn wie ich bereits sagte, können auch viele andere endokrine Drüsen betroffen sein. Dann wird es noch komplizierter: Der Patient hat eine Schilddrüsen- und Nebennierenfunktionsstörung, dazu Diabetes und vielleicht noch Haut- oder Leberprobleme. Das ist dann ein hochkomplexes Krankheitsbild, das wirklich Spezialisten erfordert.

Bedeutung einer spezialisierten Fachexpertise

esanum: Bedeutet das nicht, dass bei jedem Einsatz von Antikörperbehandlungen eine sehr engmaschige Kontrolle bezüglich dieser gefährlichen Nebenwirkungen erfolgen muss?

Prof. Andreas Fritsche: Ja, es gibt diesbezüglich auch Leitlinien von der amerikanischen Krebsgesellschaft, die besagen, dass bei Einsatz von Checkpoint-Inhibitoren der Nüchternblutzucker jedes Mal kontrolliert werden sollte. Diese Patienten erhalten ohnehin regelmäßig Blutkontrollen vor jeder Medikamentengabe, und der Blutzucker ist da auch immer dabei. Zusätzlich würde ich aber auch fordern, dass vor der Einleitung einer solchen Therapie der Langzeitblutzucker (HbA1c) bestimmt wird und danach alle drei Monate ebenfalls der HbA1c. Das ist bereits die Grundlage dieses Screenings. Das Screening auf Diabetes gehört zum Routine-Check-up der Onkologen und läuft gut. 

Wir haben nur ein anderes Problem: Bei Krebstherapien können auch andere Formen von Diabetes auftreten. Krebspatienten sind ja meist älter und haben oft schon einen vorbestehenden Typ-2-Diabetes. Manchmal erhalten sie auch Kortison, was den Blutzucker ebenfalls erhöht. Das Problem ist dann: Der Patient kommt zum Arzt mit einem hohen Blutzucker, und der Arzt denkt, aha, der hatte ja schon einen Typ-2-Diabetes, der hat sich jetzt verschlechtert. Also gebe ich ihm Tabletten, wie ich es bei jedem Typ-2-Diabetes mache, damit der Blutzucker sinkt. Das birgt aber eine hohe Gefahr, denn wenn dahinter dieser CIADM steckt, ist die richtige Therapie nicht Tabletten, sondern Insulin. Der Patient ist dann insulinpflichtig, sonst stirbt er. Wenn ich nicht erkenne, dass sich aus dem vorbestehenden Typ-2-Diabetes, der vielleicht durch Kortison schlechter wurde, ein neuer Typ-1-ähnlicher Diabetes – eben dieser CIADM – entwickelt hat, wird es gefährlich. Es ist also nicht so sehr das Problem des Screenings, ob der Blutzucker hoch ist oder nicht, sondern das Problem der Differenzialdiagnose, besonders wenn bereits ein Diabetes vorbesteht. In solchen Fällen kann der neu entwickelte CIADM als Medikamentennebenwirkung sehr leicht übersehen werden.

esanum: Das heißt, in diesem Fall ist eine sehr spezialisierte Fachexpertise nötig?

Prof. Andreas Fritsche: Für diese Entscheidung braucht man Fachleute, und man muss sich danach richten. CIADM führt zu einem absoluten Insulindefizit. Der Körper produziert kein Insulin mehr. Das messe ich, indem ich nüchtern  das C-Peptid in Relation zum aktuellen Blutzucker bestimme, welches die körpereigene Insulinproduktion erfasst. Wenn das C-Peptid nicht mehr produziert wird, weiß ich, dass es ein CIADM ist. Man misst zwar auch Autoantikörper wie GAD-Antikörper, wie beim Typ-1-Diabetes, aber diese können manchmal positiv, oft aber auch negativ sein, sodass man sich nicht darauf verlassen kann. Das endogene Insulin, also das C-Peptid, muss bestimmt werden. So lassen sich die Diagnosen voneinander abgrenzen.

esanum: Und liegt die Verantwortung für diese Untersuchung oder Feststellung aktuell noch in der Hand der Onkologen?

Prof. Andreas Fritsche: Ja, und wenn sie es übersehen, ist es eben schlecht. Sie sollten dann – bei uns ist es so geregelt – aus ihrer onkologischen Sprechstunde immer einen Konsil anfordern, bei dem wir Diabetologen dann sagen, was man noch untersuchen muss, um festlegen, welche Art von Diabetes es ist und wie man therapieren muss. Wir arbeiten da eng zusammen, und das macht inzwischen einen Großteil meiner Konsiliartätigkeit aus. 

esanum: Das heißt, an großen Universitätskliniken ist die Expertise vorhanden, die sich vernetzen kann. Aber wie sieht es in anderen Strukturen aus?

Prof. Andreas Fritsche: Gott sei Dank wird das bisher in großen Zentren so gemacht. Und jetzt kommt die politische Dimension ins Spiel: Im Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) von Herrn Lauterbach werden Leistungsgruppen eingeführt, und es sieht so aus, dass immer mehr diabetologische Abteilungen in Krankenhäusern der Maximalversorgung abgebaut werden, weil man sagt, das kann man ja alles ambulant machen. Auch die Endokrinologie kann man ambulant machen. Das ist aber gerade für solche Krebspatienten eine große Gefahr. Denn die Checkpoint-Inhibitor-Therapie wird nicht vom Hausarzt durchgeführt, sondern eben in Zentren. Und wenn dort dann plötzlich die diabetologischen und endokrinologischen  Abteilungen verschwinden, hat keiner mehr genug Ahnung.

esanum: Das heißt, Ihre Forderung ist, diese Idee zu stoppen und die diabetologischen Abteilungen zu belassen oder sogar zu stärken?

Prof. Andreas Fritsche: Ja, wir brauchen eben genügend  Leistungsgruppen „Komplexe Endokrinologie und Diabetologie“, diese sollten bei jedem Krebszentrum zur Pflicht werden. Sonst können sie eine solche Checkpoint-Inhibitor-Therapie nicht durchführen.

Warum interdisziplinäre Versorgung unerlässlich ist

esanum: An wen richtet sich diese Forderung, und in welchem Stadium befindet sie sich gerade?

Prof. Andreas Fritsche: Das richtet sich an die Gesundheitspolitik. Das Gesetz wird ja jetzt mit den Ländern verhandelt. Bei der Ausführung auf Landesebene haben die Bundesländer ein gewichtiges Wort mitzusprechen. Ich war gerade erst hier in Baden-Württemberg im Ministerium und bin dahingehend auf offene Ohren gestoßen, dass die Leistungsgruppen „Komplexe Endokrinologie und Diabetologie“ nicht abgebaut werden. Auf Landesebene bin ich daher zuversichtlich. Allerdings fehlt mir der Gesamtüberblick über alle Bundesländer. Als DDG appellieren wir an alle Regionalgesellschaften, Kontakt zu ihren Landesministerien aufzunehmen. Überall, wo Diabetes-Abteilungen in großen Krankenhäusern geschlossen werden sollen, möchten wir die Kollegen vor Ort unterstützen. Das ist allerdings schwierig, da viele Krankenhäuser rote Zahlen schreiben und Abteilungen wie Diabetologie und Endokrinologie oft als erste abgebaut werden, weil sie nach dem DRG-System nicht genügend Geld einbringen. Das ist gefährlich, nicht nur für Patienten mit Diabetes, sondern auch für Krebspatienten, die teure Checkpoint-Inhibitoren erhalten. 

esanum: Halten wir fest: Überall, wo mit Checkpoint-Inhibitoren behandelt wird, gehört eine spezialisierte diabetologische Abteilung dazu.

Prof. Andreas Fritsche: Ganz genau. Und es ist wichtig zu ergänzen, dass nicht nur die Diabetologie, sondern auch die Endokrinologie entscheidend ist.

Wer ist Prof. Andreas Fritsche? 

Prof. Dr. Andreas Fritsche ist Universitätsprofessor und Diabetologe mit einem Lehrstuhl für Ernährungsmedizin und Prävention in der Inneren Medizin IV. Er ist stellvertretender Leiter des Instituts für Diabetesforschung und Metabolische Erkrankungen des Helmholtz-Zentrums München an der Universität Tübingen. Zudem leitet er die Abteilung für Prävention und Therapie des Diabetes mellitus sowie die Diabetesstation und -ambulanz. Prof. Fritsche ist Past Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft.