Volksseuche Adipositas – ein gesundheitspolitisches Desaster?

Menschen mit Adipositas müssen weniger essen und sich mehr bewegen? Im Interview erklärt Prof. Dr. Sebastian Meyhöfer, warum das zu kurz gedacht ist und welch eine komplexe Erkrankung die Fettleibigkeit mit einem BMI über 30 ist.

Interview mit Prof. Dr. Sebastian Meyhöfer zu Adipositas in Deutschland

Prof. Dr. med. Sebastian M. Meyhöfer ist Vizepräsident der Deutschen Adipositasgesellschaft und Direktor des Institutes für Endokrinologie & Diabetes am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck, Leiter Endokrinologie, Diabetologie und Stoffwechsel

esanum: Prof. Meyhöfer, was wünschen Sie sich für Ihr Fachgebiet in naher Zukunft?

Prof. Meyhöfer: Wir brauchen bessere Aufklärung, eine strukturierte Zertifizierung und dafür qualifizierte Ärzte, zum Beispiel die Zusatzqualifikation zum Adiposiologen. Daran arbeitet die Deutsche Adipositasgesellschaft zusammen mit der Deutschen Diabetesgesellschaft gerade mit Hochdruck.

esanum: Adipositas ist ein Massenphänomen. Wie können die Hausärzte damit sinnvoll umgehen?

Prof. Meyhöfer: Adipositas ist eine hochkomplexe, chronische Erkrankung wie Rheuma oder Bluthochdruck, die ebenfalls eine kontinuierliche Therapie benötigt. Es ist eben nicht damit getan, dass man sagt: essen Sie weniger, bewegen Sie sich mehr. Das funktioniert in aller Regel nicht. Man muss die Erkrankung strukturiert und leitliniengerecht angehen. Eine wesentliche Säule ist die Ernährungsmedizin, sowie auch die Bewegungstherapie. Die dritte Säule im Bereich der multimodalen Therapie ist die verhaltenstherapeutische Ebene. Und dann haben wir die medikamentöse Therapie, sowie die bariatrisch-operative Therapie. Das alles muss in einer sinnvollen Weise miteinander verbunden werden.

esanum: Welche pathophysiologischen Zusammenhänge bestehen zwischen Typ 2-Diabetes und Adipositas?

Prof. Meyhöfer: Wir wissen, dass aus dem Fettgewebe Hormon-ähnliche Substanzen freigesetzt werden – die Adipokine. Diese vermitteln unter anderem eine schlechtere Insulinsensitivität. Das wiederum ist eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung eines Typ-2-Diabetes. Adipositas löst auch eine subklinische Inflammationsreaktion aus. Auch diese wirkt sich negativ auf die Insulinsensitivität aus. Hinzu kommt eine Verfettung der Leber, was auch eine Auswirkung auf den Zuckerstoffwechsel, sowie auf den Lipidstoffwechsel hat. Adipositas und Typ-2-Diabetes sind im Prinzip wie Zwillinge.

esanum: Welche Krankheitsfolgen hat Adipositas außerdem noch?

Prof. Meyhöfer: Die Adipositas ist die übermäßige Vermehrung von Fettgewebe im Kontext mit krankhaften Folgen. Es geht also nicht allein um das Zuviel an Fett, sondern um die negativen Auswirkungen. Wir wissen, dass die Adipositas jede Menge Komplikationen und Komorbiditäten aufweist. Außer den Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes auch Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems wie die arterielle Hypertonie. Hinzu kommen mechanische Erkrankungen, also z.B. muskulosklelettale Beschwerden, wie Arthrose in den Kniegelenken, oder Refluxerkrankungen. Wir sehen auch ein erhöhtes Risiko für Krebserkrankungen, sowie das große Spektrum der psychologisch-psychiatrischen Begleiterkrankungen.

esanum: Müsste man nicht angesichts dieser enormen Folgerisiken jedem Adipösen prophylaktisch eine Behandlung anbieten?

Prof. Meyhöfer: Das wäre sicher sinnvoll, und noch sinnvoller wäre es in die Prävention der Adipositas zu investieren. Die Diagnose Adipositas als Erkrankung hat der Bundestag erst vor eineinhalb Jahren anerkannt. Das offenbart das gesamte Dilemma: Eine strukturierte Therapie der Adipositas ist keine generelle Kassenleistung. Viele Kassen haben natürlich inzwischen bemerkt, dass die Komplikationen der Adipositas auch viel Geld kosten. Unter bestimmten Voraussetzungen kann also z.B. die bariatrisch- bzw.- metabolisch-chirurgische Intervention der Adipositas übernommen werden.

esanum: Und wie sieht es mit medikamentösen Therapien aus?

Prof. Meyhöfer: Seit einigen Jahren haben wir zugelassene medikamentöse Ansätze in der Therapie der Adipositas, welche die Effektivitäts-Lücke zwischen konservativer und chirurgischer Therapie füllen können. Es gibt allerdings im Sozialgesetzbuch den §34, der eine medikamentöse Therapie der Adipositas von der regulären Versorgung ausschließt. Das ist nicht zielführend, denn eine leitliniengerechte Therapie der Adipositas muss sich auf alle evidenzbasierten Therapiemodalitäten stützen können.

esanum: Was ist Ihr Ziel?

Prof. Meyhöfer: Ein Viertel der Menschen in Deutschland sind adipös - wenn wir alle medikamentös behandeln wollen, sprengt das die Möglichkeiten des Gesundheitssystems. Wir müssen also besser herausfinden, wer das wirklich benötigt. Und wir wollen erreichen, dass eine strukturierte Adipositas-Therapie mit allen ihren Säulen flächendeckend zur Verfügung steht und von den Kassen übernommen werden kann, sodass wir einen sinnvollen Werkzeugkasten für jeden Patienten zur Verfügung haben. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat letztes Jahr den Auftrag erhalten, ein Disease Management Programm zu entwerfen. Das IQwig hat dazu jetzt seine Leitlinienrecherche vorgelegt. Auch verschiedene Fachgesellschaften können und dürfen in Stellungnahmen ihre Expertise beitragen. Und so werden wir hoffentlich mittelfristig eine Versorgungsstruktur aufbauen können, die allen Menschen mit Adipositas ein Angebot für eine strukturierte Versorgung machen kann. Das ist leider ein Prozess, für den vermutlich noch Jahre ins Land gehen werden.

esanum: Haben Sie einen Tipp für die hausärztliche Praxis, wenn es um die Beratung und Versorgung von Patienten mit Adipositas und Typ 2-Diabetes geht?

Prof. Meyhöfer: Die Basis ist immer das, was wir als Lebensstilintervention betrachten. Bei engmaschiger Betreuung können Patienten auf diese Weise 5 bis 6 Prozent Gewichtsreduktion erreichen. Man braucht aber etwa 10 bis 15 Prozent Gewichtsreduktion, um die meisten Komplikationen der Adipositas zu reduzieren – das muss man mit den Patienten ganz klar besprechen. Kombiniert mit einer medikamentösen Therapie zur Gewichtsreduktion, erreichet man bis zu 17 Prozent, bei den neusten, bisher allerdings noch nicht zugelassenen Medikamenten, sind es fast 23 Prozent. Mit chirurgischer Therapie kann sogar noch mehr Gewichtsreduktion und entsprechen Reduktion von Morbidität und Mortalität erreicht werden. Das entscheidende ist jedoch, dass wir den individuellen Gegebenheiten des Patienten entsprechend konsequent und dauerhaft behandeln um eine dauerhafte Gewichtsreduktion von möglichst >10-15 Prozent vom Ausgangsgewicht zu erreichen.