Fallstricke beim Absetzen von Antidepressiva

Beim Beenden einer antidepressiven Medikation kann es zu Entzugssymptomen kommen, einem Rezidiv der Grunderkrankung oder einer Rebound-Depression. Wie sind die Komplikationen voneinander abzugrenzen und wie zu vermeiden?

Antidepressiva absetzen, aber richtig

Was sind die neurophysiologischen Gründe für Absetzprobleme?

Zusätzlich sollte das Risiko für eine sog. Rebound-Depression berücksichtigt werden: nach antidepressiver Pharmakotherapie besteht eine erhöhte Anfälligkeit des Organismus für einen Rückfall im Vergleich zu Patienten, die keine antidepressive Medikation erhielten. Die Grunderkrankung kann hierbei rascher und in schwererer Form als vor Beginn der Medikation zurückkehren. 

Absetzsymptome entstehen als Folge der Gegenregulation des Körpers: Fast alle Antidepressiva erhöhen die Konzentration von Serotonin oder Noradrenalin (oder Dopamin) im synaptischen Spalt, was den Organismus zu einer Reduktion der Dichte oder der Sensitivität der postsynaptischen Serotonin- und Noradrenalinrezeptoren veranlasst. Ab einer Einnahmedauer von 4 Wochen würde ein schlagartiges Entziehen der Medikamente daher einen funktionellen intrasynaptischen Neurotransmittermangel verursachen.

Unscharfe Grenzen: Entzugssymptome versus Rückfall in die Depression

In Deutschland werden immer mehr Antidepressiva eingesetzt, die Zahl der Verordnungen hat sich seit 1995 versechsfacht.3 Trotz der Vielzahl von Wirkstoffen, die für die Behandlung schwerer Depressionen zugelassen sind, sprechen etwa 50% der Patienten nicht auf die Behandlung mit einem Antidepressivum der ersten Wahl an.4 Dieser Umstand sowie Nebenwirkungen führen nicht selten dazu, dass Patienten die Einnahme ohne ärztliche Konsultation abrupt beenden.

Einige häufige Absetzsymptome (Eselsbrücke: 'FINISH')1

Bei der Differenzierung zwischen Absetzsymptomen und einem Wiederauftreten der Depression kann der zeitliche Verlauf helfen. Aufgrund der phasenhaften Charakteristik einer depressiven Erkrankung ist beim Absetzen nicht grundsätzlich mit einer sofortigen Rückkehr der Depression zu rechnen. Ein frühes Einsetzen von Beschwerden direkt nach Dosisreduktionen, Fluktuationen und kurze Dauer der Symptome mit spontaner Rückbildung sprechen den Autoren nach eher für Absetzsymptome.1
Aber Vorsicht: umgekehrt gilt dies nicht. Ein Persistieren von Entzugsphänomenen über mehrere Wochen oder Monate ist häufiger als früher angenommen.2

Warum muss insbesondere im Niedrigdosisbereich kleinschrittig ausgeschlichen werden?

Die Autoren betonen, dass das größte Risiko für Absetzphänomene im Niedrigdosisbereich besteht: "Hier sollte besonders langsam und in besonders kleinen Schritten ausgeschlichen werden."
Warum ist das so? Für viele der Medikamente besteht kein linearer Zusammenhang zwischen der Dosis und der Bindung am therapeutischen Angriffspunkt. Insbesondere gilt dies für SSRI und SNRI, die den Serotonintransporter über einen breiten Dosisbereich annähernd gleichmäßig zu 80% hemmen und erst im untersten Dosisbereich kommt es zu einem, dann plötzlichen Abfall der Blockade. Wird trotz dieser hyperbolen Beziehung die Dosis in linearen Inkrementen reduziert, zum Beispiel Citalopram in 5-mg-Schritten, käme es beim letzten Schritt (von 5 mg auf 0 mg pro Tag) zu einem abrupten Rückgang der Serotonintransporterblockade von 60% auf 0%. Daher bergen insbesondere die letzten Reduktionsschritte ein Risiko für Absetzphänomene und Rebound-Depression, während die ersten Reduktionsschritte großzügiger erfolgen können.1

Absetzprobleme sind nicht immer mild und selbstlimitierend

Protrahierte Entzugssymptome und Verordnungskaskaden machen es manchen Patienten sehr schwer, medikamenten- und beschwerdefrei zu werden. Mehr als die Hälfte (56%) der Behandelten, die versuchen, Antidepressiva abzusetzen, erleben Entzugserscheinungen und wiederum knapp die Hälfte (46%) von ihnen beschreibt ihre Entzugserscheinungen als schwerwiegend. Dies ergab ein britisches Review, das von der parlamentarischen Gruppe für verschreibungspflichtige Drogenabhängigkeit in Auftrag gegeben wurde und sich auf Daten von 14 Studien über Antidepressiva stützte.2
„In den aktuellen britischen und US-amerikanischen Leitlinien werden Schwere und Dauer des Antidepressiva-Entzugs unterschätzt, was erhebliche klinische Implikationen hat“, heißt es in der Zusammenfassung. "Diese neue Auswertung zeigt, was viele Patienten schon seit Jahren wissen – dass der Entzug von Antidepressiva oft schwere, behindernde Symptome verursacht, die Wochen, Monate oder länger andauern können", sagte der Erstautor auch der Zeitung The Guardian.5

Awareness für PWS (protracted withdrawal syndrome) noch zu gering

Die noch immer weit verbreitete Fehlwahrnehmung, dass Absetzphänomene in der Regel mild und nach ein bis zwei Wochen selbstlimitierend seien, kann Fehldiagnosen eines Depressionsrezidivs und damit neuerliche Behandlungen mit Psychopharmaka nach sich ziehen, welche wiederum beim Absetzen Probleme verursachen können.
Betroffene beschreiben oft eine Konstellation ungewöhnlicher neurophysiologischer Symptome, wie elektrische Empfindungen (Zaps), plötzlich auftretende Schwindelgefühle, Schmerzen, Übelkeit oder Schlaflosigkeit. Wenn diese Symptome ohne andere plausible medizinische Faktoren auftreten, handelt es sich wahrscheinlich um ein Entzugssyndrom, selbst wenn auch affektive Symptome bestehen.6
O-Töne von Patienten umfassen "schreckliche Schwindelattacken und Übelkeit, wenn ich meine Dosis senke" oder die "Entzugserscheinungen, wenn ich vergesse, meine Tablette zu nehmen, sind starkes Zittern, Selbstmordgedanken, ein Gefühl wie zu viel Koffein in meinem Gehirn, elektrische Schocks, Halluzinationen, wahnsinnige Stimmungsschwankungen...ich stecke jetzt irgendwie fest, weil ich zu viel Angst habe, sie abzusetzen."5

Betroffene für Betroffene: Weiterführende Literatur

Eine Behandelte hatte für 11 Jahre mit Entzugserscheinungen (die zur Arbeitsunfähigkeit führten) zu kämpfen, in denen verschiedene Fachärzte ihren Beschwerden immer wieder mit neuen Antidepressiva-Verordnungen begegneten. Nach ihrem erfolgreichen Entzug wurde sie Mitbegründerin eines Informationsportals, welches inzwischen tausende Patienten genutzt haben.6 Hier sind Erfolgsgeschichten, wissenschaftliche Quellen, Tapering- und Selfcare-Empfehlungen sowie ein Forum für individuellen Austausch zu finden. In einer lesenswerten und häufig geteilten Publikation beschreibt sie zudem ihren eindrücklichen Weg und trägt Erkenntnisse zu weiterführenden Aspekten zusammen, unter anderem Risikofaktoren für Hyperreagibilität oder welche Medikamente bei Polypharmazie nicht zuerst ausgeschlichen werden sollten.
 

DGN-Kongress 2023: Neurodegenerative Erkrankungen im Fokus 

Der DGN-Kongress vom 8. bis zum 11. November 2023 im CityCube Berlin hat den Fokus auf neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson gelegt. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie hat mit ihrem Programm 2023 die neurologischen Folgen einer alternden Gesellschaft in den Mittelpunkt gerückt. esanum berichtet vom DGN Kongress zum Beispiel auch über den Einfluss der Neuroinflammation bei MS oder das Leitlinien-Update zur Epilepsie. Hier finden Sie die aktuelle Berichterstattung.

Quellen:
  1. Bschor, T. & Krabs, M. Wie ein möglichst schonendes Absetzen vonAntidepressiva gelingt. DNP 24, 54–61 (2023).

  2. Davies, J. & Read, J. A systematic review into the incidence, severity and duration of antidepressant withdrawal effects: Are guidelines evidence-based? Addictive Behaviors 97, 111–121 (2019).

  3. Depression, Angststörungen, bipolare Störung, Schizophrenie, Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätssyndrom. springermedizin.de https://www.springermedizin.de/psychopharmakotherapie/adhs/depression-angststoerungen-bipolare-stoerung-schizophrenie-aufme/25581654.

  4. Papakostas, G. I. Managing Partial Response or Nonresponse: Switching, Augmentation, and Combination Strategies for Major Depressive Disorder. J Clin Psychiatry 70, 11183 (2009).

  5. Boseley, S. & editor, S. B. H. Antidepressant withdrawal symptoms severe, says new report. The Guardian (2018).

  6. Framer, A. What I have learnt from helping thousands of people taper off antidepressants and other psychotropic medications. Ther Adv Psychopharmacol 11, 2045125321991274 (2021).

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