Seltene neurologische Erkrankungen: Rückschläge für Antisense-Moleküle

Ein Kleinkind, das eine personalisierte RNA-Therapie gegen eine genetisch bedingte Epilepsie-Form erhalten hatte, starb nach Entwicklung eines Hydrozephalus. Die Nebenwirkung wurde bei weiteren Behandelten und Erkrankungen berichtet.

RNA-basierte Therapien für KCNT1-Epilepsie

Im Gegensatz zu älteren Gentherapien, die defekte Gene ersetzen sollen, bestehen die neuen Ansätze von Antisense-Medikamenten darin, das mutierte Gen mittels individuell auf den Patienten zugeschnittener RNA-und DNA-Schnipsel auszuschalten, sodass die Zellen das defekte Gen nicht ablesen können. Ein amerikanisches Forschungsteam stellte das nach der Patientin benannte Antisense-Molekül Valeriasen her. Im September 2020 wurde dem Mädchen dieses erstmals intrathekal verabreicht.

Valeria hatte unter der experimentellen Behandlung zunächst eine geringere Anfallsfrequenz, starb jedoch ein Jahr später, im Alter von 3 Jahren, nach Entwicklung eines Hydrozephalus. Es gibt nur ein weiteres Kind, welches die Therapie ebenfalls erhalten hat. Nach einer initialen Verbesserung hatte die 2,5-jährige Lucy die gleiche Nebenwirkung und wäre fast gestorben. Knapp zwei Monate nach Erstinjektion wurde sie mit Wimmern und seltsamen Bewegungen der Gliedmaßen auffällig, als ob sie Schmerzen hätte. Kurze Zeit später wurde jeder Muskel in ihrem Körper starr, ihre Augen verdrehten sich ins Weiße und sie schrie vor Schmerzen. Das Medikament wurde abgesetzt, ein Shunt angelegt und das Mädchen überlebte.2

Generelle Fragen an dem Ansatz kommen auf

Wie die New York Times2 kürzlich berichtete, kam es bei weiteren Patienten, die ASO-Therapien für andere seltene Erkrankungen erhielten, zu Hydrozephalen und diese Fälle könnten auf ein breiteres Problem mit dem Ansatz hinweisen.1 "[Die Nebenwirkung auf das Gehirn] ist ein Rückschlag für diesen medizinischen Nischenbereich, der in den letzten fünf Jahren rasche Fortschritte gemacht hat", so die NYT.2

Im Jahr 2016 ließ die FDA das erste Antisense-Medikament, Nusinersen, zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie zu. Bis heute wurden auch in dieser Population mehrere Fälle von Hydrozephalus berichtet.
2017 fertigte ein Forschungsteam ein Antisense-Molekül speziell für die sechsjährige Mila an, die an einer tödlichen Form des Batten-Syndroms litt. Sie stellten das Medikament mit dem Namen Milasen in nur 10 Monaten her – "weitaus schneller als die zehn oder mehr Jahre, die die Herstellung herkömmlicher Medikamente oft dauert. Vor Milasen hatte noch nie jemand ein Medikament für eine einzige Person hergestellt, schon gar nicht so schnell."2

2021 teilte der Hersteller von AMT-130, einem experimentellen Antisense-Medikament für die Krankheit Chorea Huntington, mit, dass drei von vierzehn Patienten in einer klinischen Studie ebenfalls diese schwere Nebenwirkung entwickelt hatten. Das dabei erprobte Medikament arbeitete mit einem Virus, das DNA-Anweisungen liefert, welche die HTT-Botschaft zerstören und so HTT (Huntington) senken sollen.3

Hydrozephalus: nicht die einzige Herausforderung von Antisense-Medikamenten

Ein weiteres, aufgrund negativer Studienergebnisse 2022 abgebrochenes Programm galt der Entwicklung eines Antisense-Medikamentes für Patienten mit der Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) und C9orf72-Mutation (etwa 10% der Betroffenen). Hier fanden sich zwar keine Berichte über Hydrozephalen, aber das Studienprogramm wurde bereits nach Phase-1 eingestellt, da die Kohorte mit der höchsten Dosierung des experimentellen Wirkstoffes paradoxerweise den ungünstigsten Verlauf verzeichnete. Die Krankheitsprogression war hier schneller als in der Placebo-Gruppe.4 Ein ähnliches Schicksal ereilte das SOD1-Antisense-Oligonukleotid Tofersen, welches in einer ersten Phase-III-Studie bei ALS den primären Endpunkt verfehlte.5

Auch außerhalb der Neurologie gibt es Berichte von Rückschlägen in der Entwicklung von Antisense-Nukleotiden. Vupanorsen galt als Kandidat zur Behandlung von Fettstoffwechselstörungen und Fettleber durch selektive Hemmung der ANGPTL3-Biosynthese in der Leber. Das Programm wurde jedoch 2022 abgebrochen, nachdem sich in der anlässlich des ACC-Kongresses vorgestellten TRANSLATE-TIMI-70-Studie nur eine leichte Reduktion des Non-HDL-Cholesterins, dafür aber überraschende Nebenwirkungen zeigten. Höhere Dosierungen führten unter anderem zu Erhöhungen der Leberenzyme sowie einer Fettakkumulation in der Leber – also genau dem Gegenteil des Erwarteten.6

Fazit 

Die oben geschilderten Hydrozephalus-Fälle deuten darauf hin, dass das Problem bei vielen Anwendungen solcher Therapien auftreten könnte, schließt der NYT-Bericht. Was konkret die Entstehung der Nebenwirkung verursacht, wird derzeit untersucht.

Seth Greenblott, ein Anwalt und Unternehmensberater aus Hopkinton und Lucys Vater (das zweite Mädchen, das Valeriasen erhielt), sagt: "Das Schlimmste war die Frage, ob wir ihr noch mehr Leid zugefügt haben. Musste sie noch mehr ertragen, als sie es ohnehin schon tat?"2

Weitere Informationen aus dem Fachbereich Neurologie: 

Quellen:
  1. Tailored genetic drug causes fatal brain swelling. https://www.science.org/content/article/tailored-genetic-drug-causes-fatal-brain-swelling.
  2. Hayden, E. C. Gene Treatment for Rare Epilepsy Causes Brain Side Effect in 2 Children. The New York Times (2022).
  3. Schwerwiegende Nebenwirkungen nach Behandlung mit Huntingtin-senkendem Medikament AMT-130, das sich derzeit in der klinischen Prüfung befindet. HDBuzz https://de.hdbuzz.net/329.
  4. Gaudlitz, M. Rückschlag in Therapiestudie gegen C9orf72-Mutationen. ALS-Ambulanz der Charitè https://als-charite.de/rueckschlag-in-therapiestudie-gegen-c9orf72-mutationen/ (2022).
  5. Mullard, A. ALS antisense drug falters in phase III. Nature Reviews Drug Discovery 20, 883–885 (2021).
  6. Rückschlag für Antisense-Medikament zur Lipidsenkung. Kardiologie.org https://www.kardiologie.org/acc-kongress-2022/lipidstoffwechselstoerungen/rueckschlag-fuer-antisense-medikament-zur-lipidsenkung/20279374 (2022).

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