Kleine Helden auf großer Reise: Bergsteigen mit ärztlicher Begleitung

Ihr Traum? Ihren "eigenen" Everest zu erklimmen. Die Reise im Rahmen der Initiative "À Chacun son Everest!" haucht Kindern und Frauen in Remission neuen Lebensmut ein. Auch für das begleitende Personal sind es unbeschreibliche Erlebnisse.

"À Chacun son Everest!" verändert Leben mit jedem Abenteuer

Übersetzt aus dem Französischen

Nach ihrer Besteigung des Mount Everest im Jahr 1990 als erste Französin, die das Dach der Welt erreichte, folgte Christine Janin1 der Einladung, einigen Kindern auf der Krebsstation des Hôpital Trousseau von ihrem Abenteuer zu erzählen. Die ausgebildete Ärztin erkannte schnell Parallelen zwischen den Herausforderungen bei der Bezwingung eines Gipfels und den Schwierigkeiten bei der Überwindung einer Krankheit: Die Diagnose überrollt einen wie eine Lawine, auf dem Weg zum Gipfel oder zur Heilung lauert überall Entmutigung, und in dem sterilen Raum schützt man sich wie in einem Biwakzelt.

Mit der Unterstützung von Professor André Baruchel, dem Leiter der Abteilung für hämatologische Pädiatrie am Hôpital Saint-Louis, organisierte Christine Janin damals Bergaufenthalte für leukämie- und krebskranke Kinder. "À Chacun son Everest!" wurde 1994 gegründet und richtet sich auch an Frauen, die sich nach einem Brustkrebsleiden in Remission befinden.


(Bildnachweis: Sébastien Champeaux / À chacun son Everest)


(Bildnachweis: À chacun son Everest)


(Bildnachweis: À chacun son Everest)

Aufenthalte für Kinder und Frauen

Für das Jahr 2022 waren 30 Aufenthalte geplant, davon 6 für Kinder und 24 für Frauen. Auf dem Programm stehen unter anderem Wandern und Klettern, Yoga, Meditation und Zeit für Gespräche. Sämtliche Aktivitäten werden von Fachkräften betreut. Dafür sucht Christine Janin jedes Mal ein Zweierteam, das sechs Tage lang mit der Gruppe zusammenlebt.

"Für die Kinder besteht dieses Zweierteam idealerweise aus einer Krankenschwester und einer Ärztin oder einem Assistenzarzt mit einer Ausbildung in Pädiatrie, Onkologie oder Hämatologie. Allerdings ist das keine Grundvoraussetzung, da bereits etliche Allgemeinmediziner teilgenommen haben. Bei Bedarf stehen zudem stets die überweisenden Onkologen aus den 25 Zentren unterstützend zur Seite, aus denen die Jugendlichen zu uns kommen."

Tatsächlich geht es für die Betreuer vor allem darum, auf die durch die Krankheit geschwächten Teenager achtzugeben. Die Anwesenheit von Medizinern gibt auch den Eltern Sicherheit. Dank der Arbeit zu zweit ist der Blick fürs Wesentliche geschärft. Außerdem ermöglicht sie mehr Flexibilität: Fühlt sich beispielsweise eines der Kinder nicht wohl, kann es mit dem einen Betreuer im Chalet bleiben, während die andere Betreuerin mit der Gruppe in die Berge geht.

Man muss es miterlebt haben!

Laura Blanchon ist Assistenzärztin in der Pädiatrie am Regionalkrankenhaus von Orléans. Diesen Sommer schloss sie sich zum vierten Mal der Gruppe an. Das Ganze begann 2019, als der Leiter der Abteilung für pädiatrische Onkologie, wo sie ihr Praxissemester absolvierte, ihr davon erzählte, dass Christine Janin wieder auf der Suche nach einem Arzt oder einer Ärztin sei. Aus menschlicher Perspektive war es nicht nur ein sehr intensives Erlebnis für sie, sondern auch eine prägende Zeit.

"Die Kinder sind psychisch sehr labil. Wir bieten ihnen Unterstützung und Rückhalt. Sie brauchen Zuwendung und Nähe. Vor allem aber muss ich auch erzählen, wie viel sie mir zurückgegeben haben. Da ich Ärztin im Krankenhaus bin, treffe ich die Kinder immer nur in diesem Rahmen. Und ich habe in den Bergen viel über ihre Gefühlswelt während der Krankenhausaufenthalte gelernt, über ihre Ängste, aber auch über ihre Glücksmomente. Einige Verhaltensmuster im Krankenhaus kann ich nun besser einordnen. Mir ist auch bewusst geworden, dass selbst ganz kleine Kinder viel mehr mitbekommen, als ich angenommen hatte. Seither erkläre ich die einzelnen Stadien der Krankheit anders und passe mich stärker an das Alter des jeweiligen Kindes an."

Laura Blanchons Erinnerungen bringen den Geist des Vereins perfekt auf den Punkt: Kindern wieder ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern und sie wieder mit Stolz zu erfüllen. "Eines der Kinder mühte sich auf dem Weg zum Gipfel ziemlich ab, und ich habe ihm einfach eine 'Zaubersalbe' aufgetragen. Auf dem Gipfel bedankte sich das Kind dann bei mir und sagte, dass ihm die Salbe geholfen habe, über sich hinauszuwachsen. Die Aufenthalte sind mit Worten nicht zu beschreiben. Man muss das miterlebt haben!"


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Umgeben von einem großen Park liegt das 1.200 m2 große Chalet gegenüber dem Mont-Blanc.
Es verfügt über eine Kletterhalle und einen Wellnessbereich.
(Bildnachweis: Gaetan Haugeard / À chacun son Everest)

Die selbst ursprünglich aus Chamonix stammende Jeanne Cardis sah auf Facebook eine Anzeige der Organisation. Die jetzige Hausärztin in Lyon zögerte im vergangenen Sommer nicht, ihre Praxis eine Woche lang zu schließen und eine der Jugendgruppen zu begleiten. "Ich hatte ein wenig Angst davor, kranke Kinder zu betreuen, da das nicht mein Fachgebiet ist. Aber letztendlich hatte ich kaum Betreuungsaufgaben zu erledigen."

Die Reise hat sich als überaus bereichernd erwiesen, sowohl durch das gemeinschaftliche Miteinander mit diesen "wirklich besonders reifen" Jugendlichen als auch durch den Austausch mit allen Betreuern. "Wir sind viele Erwachsene mit sehr unterschiedlichen beruflichen Hintergründen, vom Personal des Chalets bis hin zu den Bergsportprofis. Wir alle teilen gemeinsame, deutlich spürbare Werte: zum Beispiel gegenseitiges Wohlwollen." Dr. Cardis ist sich noch nicht sicher, ob sie diesen Sommer eine Vertretung für ihre Praxis finden wird. Eines steht jedoch schon fest: Im August wird sie wieder in die Berge gehen.

Neue Lebenskraft nach Brustkrebs

Seit 2011 stehen diese besonderen Reisen auch Frauen offen, die vor kurzem noch wegen Brustkrebs behandelt wurden. Einzige Bedingung: Die Strahlentherapie muss seit mindestens vier Monaten abgeschlossen sein.

Christine Janin bemüht sich darum, erfahrene Pflegekräfte um sich zu scharen, denn die Fragen der Frauen sind sehr konkret, die Probleme komplex und ihre Geschichten voller Schmerz. "Wir suchen eher Onkologen oder sogar Senologen. Auch Psychologen mit einer Zusatzausbildung in Sexual- oder Ehetherapie sind äußerst nützlich."

Damien Tomasso hat zwei der Reisen betreut, immer im Zweierteam mit einem Psychologen oder einer Psychologin. Er arbeitet unter anderem im Bereich Unterstützungs- und Palliativpflege (Krankenhausgruppe Diaconesses Croix Saint-Simon) und bietet Beratungsgespräche nach einer Krebserkrankung an. Auch bei ihm haben die Aufenthalte in Chamonix seine Arbeitsweise nachhaltig verändert. "Mir ist bewusst geworden, wie groß die Schuldgefühle dieser Frauen sind. Sie fragen sich, was sie falsch gemacht haben, um krank zu werden. Ganz offenkundig spricht man über diese Schuldgefühle im Laufe der Behandlung viel zu wenig."

Der zwanglose Austausch auf einer Wanderung, in kleinen Gruppen oder zu zweit, kann zu einer heilsamen Erfahrung werden. Beim Wandern und auch in gesonderten Gesprächsrunden sind offenere Gespräche möglich. "Das sind emotional sehr eindringliche Momente des Loslassens zwischen Menschen, die einander verstehen und voneinander lernen", erklärt der Arzt. An einem Abend werden regelmäßig Fragen zum Thema Sexualität nach dem überstandenen Krebs besprochen. "Es kommt nicht selten vor, dass dann alte Traumata wieder hochkommen."

Dr. Tomasso weiß, dass er wieder mit "Jedem sein Everest" in die Berge gehen wird. "Weil es ein so eindringliches Erlebnis ist und weil Christine es versteht, die Gruppe mitzureißen. Die drei Kolleginnen aus meiner Abteilung, die auch schon bei den Reisen dabei waren, kehrten danach wie ausgewechselt zurück."

Hilfe auch für Pflegende

Nach der ersten Coronawelle richtete sich die Organisation an Pflegekräfte. 300 Krankenhausmitarbeiter, darunter Ärzte, Krankenschwestern, Führungskräfte sowie Service- und Hilfskräfte, trafen sich in Chamonix, um wieder zu Kräften zu kommen.

"Im Frühling 2020 habe ich mich gefragt, wie ich den Kollegen am besten helfen könnte. Sollte ich zur Verstärkung auf eine Station gehen? Angesichts meines Alters fiel mir jedoch etwas Besseres ein. Und so habe ich mich eines Abends mit einem befreundeten Arzt darüber unterhalten und innerhalb von zwanzig Minuten war der Entschluss gefasst." Christine Janin bat umgehend die Gesundheitsbehörde der Region und den Bezirksrat von Haute-Savoie um Unterstützung, damit sie den überarbeiteten Pflegekräften entsprechende Reisen ermöglichen konnten. Die Organisation stellt zwar die Unterkunft zur Verfügung und organisiert die Logistik, ihre Mittel sind jedoch satzungsgemäß für Aufenthalte von Kindern und Frauen vorgesehen.

Im Sommer 2020 konnten sich einige Pflegekräfte, hauptsächlich Pflegerinnen, in Chamonix eine kleine Auszeit nehmen. Zwei oder drei Tage lang konnten sie sich beim Wandern, Klettern, Meditieren oder Yoga endlich wieder auf sich selbst konzentrieren. "Aber erst in den Gesprächsrunden zeigte sich das ganze Ausmaß ihrer Not. Ich habe weinende Führungskräfte gesehen, Anästhesistinnen und Intensivmedizinerinnen, die am Boden zerstört waren, und Krankenschwestern in Altenheimen, die nicht mehr konnten. Sie alle hatten sich im Kampf gegen die Pandemie so sehr eingesetzt."

Auch hier mussten die Leute erst einmal unter sich sein, damit sie sich überhaupt trauten, ihren Ärger und ihre Angst zum Ausdruck zu bringen. Christine Janin erinnert sich noch gut an eine Krankenschwester, die zwei Monate lang in einem Hotel wohnte, weil sie schreckliche Angst davor hatte, ihre Angehörigen anzustecken. Oder auch an die Anästhesistin, die mit ihren Worten diese Kurzaufenthalte so treffend zusammengefasst hat: "Hier hat man das Recht zu weinen und seine Schwächen offen zu zeigen."



 

Anmerkungen:

  1. Nachdem sie Tibet auf dem Mountainbike und anschließend Baffin Island im Seekajak durchquert hatte, bestieg Christine Janin 1990 als erste Französin den Mount Everest. Zwei Jahre später gelang es ihr als erster Europäerin, die Herausforderung der "Seven Summits" zu meistern, nachdem sie den höchsten Gipfel jedes Kontinents erreicht hatte: Mount Everest (Asien), Mount Vinson (Antarktis), Aconcagua (Südamerika), McKinley oder Denali (Nordamerika), Elbrouz (Europa) , Kilimandscharo (Afrika), Puncak Jaya oder Carstensz-Pyramide (Ozeanien). 1997 erreichte Christine Janin nach einem 62-tägigen Fußmarsch auf Skiern als erste Frau der Welt den Nordpol ohne mechanische Hilfsmittel oder Schlittenhunde.