Manchmal wird Digitalisierung kontrovers betrachtet. Zu Unrecht, wie ich finde. Wenn man sich Zeit für Prozessbetrachtung nimmt, kann man mit Digitalisierung sehr viel gewinnen - Zeit zum Beispiel. Und wir alle brauchen Zeit. Und das Gute daran: wir kommen gerade in eine Phase des Gesundheitswesens, in der mehr als früher die Möglichkeit besteht, sich Arbeit abnehmen zu lassen. Dabei haben wir noch viel Potential bei der Digitalisierung in deutschen Krankenhäusern.
Es gibt unterschiedliche Scoring Systeme, um die Digitalisierung von Krankenhäusern und Gesundheitssystemen zu bewerten. Eines davon ist das EMR Adoption Model mit einer Skala von 0-7. Ein Punktwert von 1 bedeutet, dass man einen Teil der Krankenhauskommunikation durch ein Informationssystem digitalisiert hat, beispielsweise radiologische Bilder und die Kommunikation mit dem Labor und der Apotheke. Ein Punktwert von 7 bedeutet eine komplett durchdigitalisierte Gesundheitsstruktur mit miteinander kommunizierenden und abrufbaren Einzelteilen und Vernetzungen, sowie der Möglichkeit der digitalen Auswertung. In Deutschland liegen wir auf dieser Skala mit 2,3 unter dem europäischen Durchschnitt von 3,6.
Das Ziel der Digitalisierung ist für mich, dass wir Ärztinnen und das medizinische Personal uns all den Bereichen widmen können, die eben nicht digitalisierbar sind. Welche sind das? Menschlichkeit zum Beispiel in der wirklichen Interaktion zwischen Menschen. Wir wollen die Patientin verstehen, ihr ein sicheres, gutes Gefühl geben. Wir wollen mit den Menschen arbeiten, die zu uns kommen und für sie da sein, sie sollen dadurch gesünder werden. Aber oft fehlt uns die Zeit für diese echte, wertvolle Interaktion zwischen Ärztin und Patient/in.
Erfreulicherweise gewann ich mit meinem Konzept den Digitalisierungs-Wettbewerb. Dennoch hatte ich etwas Sorge. In einem Berliner Krankenhaus war einige Zeit zuvor die Digitalisierung der Kurven gescheitert. Die Erprobung der digitalen Kurven war so kompliziert und aufwändig, dass ein beteiligter Oberarzt über den Flur schrie: “Was soll das hier alles mit den digitalen Kurven? Wenn ich eine Anordnung machen will, dann sage ich das Schwester Domi und die macht das dann!” Dann wurde das Projekt „Digitale Kurve“ dort beendet. Die Belegschaft war dagegen.
Digitalisierung verlangt ein bisschen Gehirntraining für die Beteiligten, die sich Mühe geben müssen, sich neu einzudenken. Auch in meinem Team gab es Zweifler an der Digitalisierung. Es bedurfte vieler Gespräche. Ich hatte die Hoffnung, dass der Aufwand, den wir betreiben würden, uns die Arbeit nachhaltig erleichtern würde. In der Vorbereitungsphase von etwa einem dreiviertel Jahr habe ich immer wiederholt: Das wird uns die Arbeit erleichtern. Anfangs wird es ganz schwer für uns alle, wir haben acht bis zwölf schlimme Wochen vor uns. Und danach wird es richtig gut. Dieses Mantra hat uns durch die Zeit geholfen.
Wir digitalisierten weite Teile unserer Klinikstruktur - und es wurde gar nicht so schlimm wie befürchtet! Anstrengend war es trotzdem. Und jetzt will es niemand mehr anders. Sogar die Kritiker, die einstigen Skeptiker, sagen inzwischen: Gottseidank haben wir das so gemacht, es ist gar nicht mehr vorstellbar, dass wir ohne Digitalisierung der Prozesse arbeiten konnten.
Wir haben digitalisiert, was wir konnten - zum Beispiel Krankenakten, Kurven und CTGs, also die Ableitungen der Herztöne von Babys im Kreißsaal. Früher hat man diese auf Papier geschrieben, dabei entstanden oft meterlange Papierstreifen. Und wenn ich die Information haben wollte, musste ich diesem Papier hinterherlaufen. Jetzt ist diese Information von jedem Computer abrufbar, man kann es mit Kolleginnen teilen und diskutieren. Auch dass wir die Kurven und komplette Dokumentation digitalisiert haben, klingt vielleicht unspektakulär - aber es ist eine riesige Erleichterung des Alltags, die leider auch noch lange nicht in allen deutschen Krankenhäusern angekommen ist.
Auch Roboter-Chirurgie ist Teil der Digitalisierung. Dabei kann ich dank computer-gesteuerter Unterstützung präziser operieren und bin weniger körperlich belastet als bei konventionellen Operationen.
Die Krankenpflegenden meiner Stationen haben ein digitales Lieblings-Device. Sie haben es "Theo" getauft. Theo ist fahrbar und misst die Vitalparameter Puls, Blutdruck, Temperatur. Dann überträgt er diese Daten automatisch in das Krankenhausinformationssystem. Keine hastig gekritzelten Blutdruckwerte auf kleinen Zetteln mehr. Während Theo die Daten misst, kann die Krankenpflegende mit der Patientin sprechen und ihre Bedürfnisse erfahren. Theo schafft Freiraum für menschliche Interaktion.
Früher bin ich oft Freitagabend, nachdem ich die Kinder ins Bett gebracht hatte, nochmal in die Klinik gefahren, um die Patientinnen zu visitieren und zu informieren, die ich tagsüber operiert hatte. Meist war der Fahrtweg deutlich länger als die eigentliche Visite. Zur Digitalsierungsstrategie in meiner Klinik gehören daher nun auch Robotervisiten. Dabei schalte ich mich auf den double robot, das ist ein fernsteuerbares fahrendes Ipad, das ich über eine App steuern kann. Damit kann ich mich selbstbestimmt durch meine Klinik bewegen. Seitdem habe ich auch keine Probleme mehr, wenn ich auf Kongressen bin, Patientinnen zu visitieren, obwohl ich weit weg bin.
Die Zukunft der Digitalisierung sehe ich so, dass mir Künstliche Intelligenz dabei hilft, Diagnosen zu stellen, Wahrscheinlichkeiten zu kalkulieren und meine menschlichen Fehler minimiert. Ich will eigentlich keine Prozesse durchführen, die digital möglich sind. Meine Stärken als Mensch sind Gefühle und menschliche Begegnungen. Dies ist schwierig zu digitalisieren. Hoffentlich noch eine Weile…
In diesem Sinne (noch) menschliche Grüße,
Ihre Mandy Mangler