Rauchentwöhnung auf Rezept? "Rechtslage verhindert Behandlung"

Auf dem Deutschen Suchtkongress 2018 spricht sich Prof. Dr. Stephan Mühlig von der TU Chemnitz für Tabakentwöhnung als Kassenleistung aus. Neues Argument: ein erfolgreiches Modellprojekt zur vollfinanzierten Tabakentwöhnung bei COPD-Patienten und Patienten mit chronisch persistierendem Husten.

Derzeit Erstattungsverbot für Tabakentzugsmedikamente trotz Leitlinienempfehlung

Auf dem Deutschen Suchtkongress 2018 spricht sich Prof. Dr. Stephan Mühlig von der TU Chemnitz für Tabakentwöhnung als Kassenleistung aus. Neues Argument: ein erfolgreiches Modellprojekt zur vollfinanzierten Tabakentwöhnung bei COPD-Patienten und Patienten mit chronisch persistierendem Husten, einem Frühstadium zur COPD.

Das Inhalieren von Tabakrauch wird für 80 bis 90 Prozent der chronischen Atemwegserkrankungen ursächlich verantwortlich gemacht. Bis zu 50 Prozent der starken Raucher entwickeln eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD). Laut Schätzung der Weltgesundheitsorganisation wird die COPD bis 2030 die vierthäufigste Todesursache sein. Obwohl die Effektivität verhaltenstherapeutischer und medikamentöser Maßnahmen zur Tabakentwöhnung bei Rauchern mit COPD mit hoher Evidenz belegt ist, sieht die deutsche Gesetzgebung keine Kostenübernahme für Tabakentwöhnungsmaßnahmen als Kassenleistung vor. Dr. Mühlig möchte das ändern.

esanum: Prof. Mühlig, dass Tabakrauch für die Lunge und die gesamte Gesundheit Teufelszeug ist, wissen wir alle – warum ist die Tabakentwöhnung zwischen Medizinern und Krankenkassen trotzdem so ein umstrittenes Thema?

Mühlig: Das ist tatsächlich schwer nachvollziehbar, weil es seit Jahrzehnten eine robuste Evidenz – und gerade auch wieder ganz neue Befunde - gibt, die belegen, dass Rauchen mit Abstand der wichtigste Risikofaktor für schwere Erkrankungen und vorzeitigen Tod ist. Das ist genau der Punkt, der mich so aufgeregt hat, als ich mit der Tabakforschung und Tabakentwöhnung angefangen habe: Die groteske Situation, dass der allerwichtigste Risikofaktor in unserem Gesundheitswesen in der sozialrechtlichen Einordnung so stiefmütterlich behandelt wird. Tabakentwöhnung und Tabakabhängigkeitstherapie wird in Deutschland nicht als Heilleistung erstattet, sondern lediglich als Präventionsmaßnahme in sehr geringem Umfang bezuschusst. Tabakentwöhnung muss aus unserer Sicht vergütet werden wie jede andere Suchttherapie, nur dann besteht genügend Anreiz für konsequente professionelle Entwöhnungsangebote, durch die viele schwere Erkrankungen rechtzeitig verhindert werden könnten. Zudem erfüllen etwa 40% der Raucher die Diagnosekriterien für eine Suchterkrankung. Tabakabhängigkeit ist also eine ICD-10-Diagnose, und es gibt keinen wissenschaftlich haltbaren Grund, sie sozialrechtlich anders zu behandeln als andere Suchterkrankungen.

esanum: Was haben Sie unternommen, um eine Änderung zu erreichen?

Mühlig: Wir haben versucht, beim GBA durchzusetzen, dass Tabakentwöhnung im Rahmen der Richtlinien-Psychotherapie behandelt werden kann. Es gab dazu je ein unterstützendes Gutachten der Bundesärztekammer und der Bundespsychotherapeutenkammer – aber der GBA hat sich konträr zu der Expertenempfehlung auf den Standpunkt gestellt, Tabak sei keine psychoaktive Substanz und hat die Tabakabhängigkeitstherapie von der Indikation der Richtlinienpsychotherapie ausgenommen.

Für die Abrechnungsfähigkeit in der übrigen vertragsärztlichen Versorgung geht es im Wesentlichen um eine juristische Frage. Vor Jahren wurde im § 34 SGB V formuliert, dass Arzneimittel, die überwiegend für Life-Style-Zwecke eingesetzt werden, von der Erstattung grundsätzlich ausgenommen sind. Da wird als Beispiel neben Potenz- und Haarwuchsmitteln auch die Rauchentwöhnung genannt. Unter das Erstattungsverbot fallen seitdem alle Tabakentzugsmedikamente (Nikotinersatzprodukte, Vareniclin und Bupropion), die nach Studienlage die Abstinenzwahrscheinlichkeit signifikant erhöhen und in den einschlägigen Therapieleitlinien ausdrücklich empfohlen werden. Es ist natürlich paradox, dass für Patienten mit schweren tabakassoziierten Erkrankungen, für deren Prognose ein Rauchstopp von entscheidender Bedeutung ist, die Behandlung nicht erstattet wird, wenn andererseits die Medikamente, die sie gegen ihre rauchbedingten Erkrankungen - COPD beispielsweise - benötigen, ein Vielfaches kosten. Man kann sagen: Die derzeitige Rechtslage verhindert in diesem Bereich eine leitliniengerechte und evidenzbasierte Behandlung.

Wir - Kollegen aus Chemnitz, Tübingen und Berlin im wissenschaftlichen Arbeitskreis Tabakentwöhnung WAT - haben eine renommierte Anwaltskanzlei für Medizinrecht engagiert, mit der wir bis vors Bundesverfassungsgericht ziehen wollten. Leider ist unsere Klageinitiative durch eine ähnliche dort anhängige Klage derzeit blockiert. Doch im Zuge unserer Klage haben die Anwälte herausgefunden, wie der §34 überhaupt zustande kam. Es ging gar nicht um Medikamente, die bezogen auf den einzelnen Fall "überwiegend zu Life-Style-Zwecken verordnet" werden, sondern darum, ob die Arzneimittel im Markt "überwiegend" zu Life Style genutzt werden.

Der §34 mit dem Erstattungsverbot für Tabakentzugsmedikamente hat lange Zeit die Erstattung auch der nicht-medikamentösen verhaltenstherapeutischen Entwöhnungsbehandlung verhindert. Im Rahmen des Disease Management-Programms (DMP) für COPD wurde nach langem Ringen letztes Jahr endlich erreicht, dass GBA und BMG für die dort eingeschriebenen Patienten zumindest die verhaltenstherapeutische Tabakentwöhnung als Heilkundeleistung akzeptieren. Allerdings scheint die Umsetzung derzeit in der Versorgungsrealität noch nicht zu funktionieren.

esanum: Warum übernehmen die Kassen die Tabakentwöhnung nicht als Behandlungsleistung?

Mühlig: Das war mir lange Zeit auch ein Rätsel. Gesundheitsökonomische Studien belegen, dass Tabakentwöhnung die mit Abstand kosteneffektivste Intervention in der ganzen Medizin ist. Mit keiner anderen Maßnahme lassen sich bei vergleichbar geringem Aufwand so viele gute Lebensjahre (QALYs) erhalten sowie schwerwiegende Erkrankungen und vorzeitige Todesfälle vermeiden. Auch für die Krankenkassen würde sich eine breite Investition in Tabakentwöhnung nach wenigen Jahren nicht nur amortisieren, es könnten sogar viele Millionen Kosten eingespart werden. Eine Vollfinanzierung der Tabakentwöhnung ist in mehrfacher Hinsicht wichtig: Sie würde nicht nur das Angebot verbreitern und mehr Raucher vor schweren Erkrankungen bewahren. Wie eine Cochrane-Metaanalyse beweist, führt eine Vollfinanzierung auch zu einer fast dreifach höheren Inanspruchnahme als bei Teilerstattung oder Selbstzahlung und sogar zu einer 50% höheren Abstinenzrate am Ende der Behandlung.

Die Befürchtung einer "Kostenlawine" auf Kassenseite lässt sich durch wissenschaftliche Studien und die Erfahrungen aus anderen Ländern leicht widerlegen. Die einzelne Krankenkasse steckt aber in einem doppelten Dilemma: 1. Wenn eine Einzelkasse in der Tabakentwöhnung voranschreitet, bringt sie sich kurzfristig in Wettbewerbsnachteil zu ihrer Konkurrenz. Da Kassenvorstände als Privatunternehmen in betriebswirtschaftlichen Kategorien von Rechnungsjahren denken, wird hier eine kurzfristige Mehrausgabe überbewertet und der langfristige Kosteneinsparungsnutzen aus dem Auge verloren. Hier wird – nach dem Rechtsgutachten unserer Verfassungsjuristin – eigentlich das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB auf den Kopf gestellt, da die Kassen zugunsten der kurzfristigen (minimalen) Kostenreduktion die langfristigen (drastischen) Folgekosten des Tabakrauchens (ca. 33 Mrd. Euro pro Jahr!) billigend in Kauf nehmen. 2. Solange der §34 in Kraft ist, dürfen die GKV eine leitliniengerechte Tabakentwöhnung (inkl. der Medikation) nicht bezahlen. Jeder Vorstand, der dies zuließe, würde sich strafbar machen und könnte zudem wegen Veruntreuung von Versicherungsgeldern belangt werden.

esanum: Wie ist nun Ihr Modellprojekt zur vollfinanzierten ambulanten Tabakentwöhnung bei COPD-Patienten entstanden?

Mühlig: Das ganze Projekt ist als Idee geboren worden, nachdem ich in einer Podiumsdiskussion zum Thema "Tabakentwöhnung als Kassenleistung" mit den GKV-Vertretern eine sehr lebhafte Auseinandersetzung hatte. Wenige Monate danach wurde ich von dieser Kasse dann aber eingeladen, das Problem ausführlich zu diskutieren. Ich bin sehr dankbar, bei der AOK PLUS letztlich tatsächlich auf eine offene und gesundheitspolitisch verantwortliche Position getroffen zu sein. Und so entstand in Zusammenarbeit mit der AOK PLUS das Modellprojekt zur Vollfinanzierung einer leitliniengerechten Tabakentwöhnung in der pneumologischen Facharztpraxis, an der insgesamt über 800 aktiv rauchende Patienten mit COPD bzw. chronischem persistierendem Husten in Sachsen und Thüringen teilgenommen haben. Die AOK PLUS hat im Rahmen dieses Modellprojektes (wo ausnahmsweise eine vorübergehende Abweichung von der Gesetzeslage erlaubt ist) eine State-of-the-Art-Tabakentwöhnung nach Leitlinien voll finanziert. Der krankheitsspezifische Tabakentwöhnungskurs plus Medikamente plus 12-monatige telefonische Nachbetreuung haben zusammen genommen Kosten von nicht einmal 700 Euro pro Patient verursacht.

esanum: Wie sind Sie im Modellprojekt vorgegangen?

Mühlig: Wir haben auf Praxisebene zwei Gruppen gebildet: Die eine Gruppe (N=257) erhielt das übliche Versorgungsangebot (Treatment as usual), d. h. die Patienten erhielten von ihrem Pneumologen die Empfehlung zum Rauchstopp, eine Broschüre mit Tipps zur Tabakentwöhnung und die Kontaktdaten zu Tabakentwöhnern in ihrer Wohnortnähe, aber keine zusätzlichen Maßnahmen oder finanzielle Unterstützung über den Status Quo hinaus. Die zweite Gruppe (N=551) erhielt die state of the art-Tabakentwöhnung mit vollfinanziertem Programm.

Die Pneumologen haben rauchende Patienten mit erfüllten Einschlusskriterien angesprochen und zur Studienteilnahme eingeladen. Bei vorliegender Einwilligungserklärung bekamen die Teilnehmer der Studiengruppe dann drei Termine für eine standardisierte verhaltenstherapeutische Tabakentwöhnung in den Praxen, die wir zuvor in dem krankheitsspezifischen Entwöhnungsprogramm geschult hatten. Dieses Programm enthält Module zur Psychoedukation, Rauchdiagnostik, Motivierung, Rauchstoppvorbereitung, Lebensumstellung und Rückfallprophylaxe. Die Nutzung von Medikamenten wurde zwischen Arzt und Patient autonom entschieden. Etwa 90% der Teilnehmer entschieden sich für eine medikamentöse Unterstützung, aber nicht alle haben diese auch adhärent umgesetzt. Begleitend zum Kurs und nach Kursende gab es eine 12-monatige telefonische Nachbetreuung. Die Abschlussuntersuchung fand 12 Monate nach Kursende beim Pneumologen statt. Dort wurden die Teilnehmer zu ihrem Rauchstatus befragt, dieser aber auch objektiv kontrolliert (CO-Messung). Wir sind also sehr streng vorgegangen. Erfolgskriterium war eine 12-monatige kontinuierliche Abstinenz ohne Rückfall. Zusätzlich haben wir diejenigen als Erfolg gewertet, die nach einem kurzen Rückfall sofort einen erneuten Rauchstopp erfolgreich durchgeführt haben und danach bis Ende der Studie (mindestens die letzten 30 Tage vor Studienende) rauchfrei geblieben sind.

esanum: Wie stellen sich die Studien-Ergebnisse nun dar?

Mühlig: Der Effekt war zu unserer eigenen Überraschung weit überdurchschnittlich – obwohl wir im Vergleich zu anderen Studien methodisch strenger vorgegangen sind, d.h. mit vergleichsweise langem Nachuntersuchungszeitraum (12 Monate), objektiver Kontrolle statt nur Selbstangaben, strengem Erfolgskriterium und Intention-to-treat (alle Patienten, die nicht zur Abschlussuntersuchung erreicht wurden, gelten als Misserfolg).

esanum: Wie sieht das in Zahlen aus?

Mühlig: Von den Completern (Teilnahme an mindestens 2 der 3 Kurstermine) waren fast die Hälfte abstinent. Wenn wir alle, die wir am Schluss nicht mehr erreichen konnten, als Misserfolg werten, dann sind wir immer noch bei weit mehr als einem Drittel erfolgreicher Dauerabstinenz. Die Vergleichsgruppe mit der Routinebetreuung lag bei deutlich unter 10% Prozent.

esanum: Welche Schlussfolgerungen sind zu ziehen? Wie geht es jetzt weiter mit Ihrem Anliegen, die Maximalintervention bei der Tabakentwöhnung fest im Gesundheitssystem zu etablieren?

Mühlig: Wir haben jetzt mit der AOK PLUS bewiesen, dass eine vollfinanzierte Tabakentwöhnung von Patienten und Ärzten gut angenommen wird und problemlos funktioniert. Das Angebot hatte eine relativ gute Erreichungsquote und eine sehr hohe Akzeptanz. Über 90% der Patienten würden das Programm weiterempfehlen. Und die Kosten blieben mit etwa 700 Euro pro Teilnehmer und Gesamtbehandlung wirklich sehr niedrig. Allein die Arzneimittelkosten für einen COPD-Patienten der höheren Schweregrade liegen pro Jahr um den Faktor 5 bis 20 höher.

Schlussfolgernd aus diesen Ergebnissen ist zu fordern, dass die vollfinanzierte Tabakentwöhnungsbehandlung in Deutschland flächendeckend umgesetzt und verstetigt wird, zumindest für alle Patienten mit medizinischer Indikation, d. h. bei tabakassoziierter somatischer Erkrankung (COPD, KHK etc.) und/oder bei vorliegender Tabakabhängigkeit nach ICD-10. Wir hoffen, dass andere Kassen mit dem gleichen oder ähnlichen Angeboten nachziehen. Und wir fordern die politischen Entscheidungsträger in Bundesregierung und Bundestag auf, dafür zu sorgen, dass der §34 SGB V geändert und die Tabakentwöhnungstherapie zu einer regulären Kassenleistung gemacht wird.

esanum: Vielen herzlichen Dank für das Interview!