Dr. Haegy, Impfaktivist aus fester Überzeugung

Inmitten von Demonstrierenden gegen den Gesundheitspass steht Dr. Haegy mit einem Schild, das an die Zahl der ungeimpften Intensivpatienten erinnert.

Dr. Jean-Marie Haegy: Arzt und Impfaktivist

Übersetzt aus dem Französischen

Sein Foto hat sich in den sozialen Netzwerken viral verbreitet. Darin sieht man ihn an einer Straßenecke, wo er allein ein grob gemaltes Schild hochhält. Unter zwei Fotos von Krankenhauspatient:innen stehen die offiziellen Zahlen: "2.000 Patienten auf der Intensivstation, 85 % nicht geimpft". Dr. Haegy fügte nüchtern hinzu: "Wer sind die Nächsten?" - Diese Frage ist keine Provokation, sondern richtet sich an die Aktivist:innen, die gegen den französischen Gesundheitspass ("Pass sanitaire") sind. Es soll ein wenig pikieren, das Stigma seines schwarzen Humors als Notarzt.

Das Foto, begleitet von den Worten "Immer noch standhaft", wurde ursprünglich auf seinem bescheidenen LinkedIn-Konto für seine Freunde veröffentlicht. Das Bild wurde auf Twitter - einem Netzwerk, das Dr. Haegy selbst nicht nutzt - aufgegriffen und weit verbreitet. Wer ist dieser diskrete Mann, der sagt, er sei "ein bisschen überwältigt" von dem Trubel und ziehe es vor, auf Anfragen von Nachrichten nicht zu antworten? Wer ist dieser Arzt, dessen ruhiger, aber entschlossener Blick auf die Menge gerichtet ist, ohne ihr zu trotzen?

Der Mann mit dem Schild

Jean-Marie Haegy, Notarzt und Wiederbelebungsspezialist, ist ehemaliger Leiter der Abteilung für medizinische Wiederbelebung der Zivilkrankenhäuser von Colmar. Er war einer der Mitbegründer von "Médecins du Monde", einer Vereinigung, für die er die Delegation im Elsass gründete.

Seine Missionen führten ihn nach Vietnam, Uganda, Tschad, Mosambik, Guinea, Äthiopien, Polen, in die DDR, nach Rumänien, Leningrad, Kurdistan und Sarajevo. Dr. Haegy ist auch Mitbegründer der Vereinigung "Sépia" (Suicide écoute prévention intervention auprès des adolescents, zu deutsch: Suizidpräventionsmaßnahmen für Jugendliche), die durch eine Erfahrung in Quebec inspiriert wurde.

Er ist Autor zahlreicher Bücher über humanitäre Hilfe und Notfallmedizin, darunter "L'Engagement humanitaire" (Humanitäres Engagement), "Petit diagnostic sur l'altruisme en situation d'urgence" (Eine kurze Diagnose des Altruismus in Notfällen), eine Reflexion über die Ambivalenz des humanitären Handelns, und "Le Voleur de mémoire" (Der Gedächtnisdieb), ein Thriller, der in der Welt der Notfallmediziner spielt.

Während seiner gesamten Krankenhauskarriere, die ihn bald zur Leitung der Intensivstation und später der Notaufnahme der Colmarer Zivilkrankenhäuser führte, hat Jean-Marie Haegy nie aufgehört, an humanitären Einsätzen teilzunehmen. Die Liste ist beeindruckend, von den Küsten Vietnams im Jahr 1979 zur Rettung der Boatpeople bis hin zur medizinischen Betreuung der Kinder von Tschernobyl. Von den nach Rumänien organisierten Konvois bis hin zu den Einsätzen in Kurdistan, Afrika, im Kosovo oder in Gaza.

Während die Pandemie einige seiner Kolleg:innen vor den Fernseher getrieben hat, zieht er es vor, auf die Straße zu gehen. Mit seinen 75 Jahren ist Jean-Marie Haegy immer noch von dem angetrieben, was ihn bis ans Ende der Welt geführt hat. Er akzeptiert nicht, was ihm nicht in Ordnung erscheint. "Das ist es, was mich jeden Morgen aufstehen lässt", sagt er.

"Ich hatte das Gefühl, dass ich dorthin gehöre, auf diese Straßen. Ich hatte keine Wahl, ich konnte nicht schweigen." Auf dem Rückweg von einem Einsatz in Bastia, Frankreich, wohin er von der Gesundheitsreserve als Verstärkung geschickt worden war, beschloss Jean-Marie Haegy, sich unter die Protestierenden gegen den Gesundheitspass zu mischen. "In Bastia waren von den zehn Patienten, die auf der Intensivstation lagen, acht nicht geimpft. Das Gleiche in Ajaccio."

"Ich möchte nur, dass sie geimpft werden"

Unermüdlich ist der Arzt bereits auf Dienstreise. "Ich werde mich auf Ersuchen der 'ARS' (Agence Régionale de Santé, zu deutsch: Regionale Gesundheitsagentur) auf den Westindischen Inseln aufhalten, um im Rahmen einer Hippocampe-Mission COVID-Patient:innen in das französische Mutterland zurückzubringen. Guyana, Martinique oder Guadeloupe, ich weiß noch nicht, wohin ich fliege" (Anmerkung der Redaktion: zum Zeitpunkt der Original-Veröffentlichung flog Dr. Haegy nach Guadeloupe). Eine Stunde, nachdem er diesen Auftrag angenommen hatte, bot ihm die Gesundheitsreserve ebenfalls an, als COVID-Verstärkung nach Guadeloupe zu gehen.

Bei zwei Gelegenheiten, am 21. und 28. August 2021, schloss sich der Arzt der Anti-Gesundheitspass-Prozession an. Beim ersten Mal wurde er von der Polizei umzingelt und mit der Begründung beiseite geschoben, er habe keine vorherige Anmeldung zu seiner Demonstration abgegeben. Dr. Haegy ist sich bewusst, dass dies vor allem aus Angst vor Unruhen geschah. Beim zweiten Mal konnte er mit seinem Schild durch die Straßen gehen und an zwei verschiedenen Orten stehen. "Die Polizei hatte mehr Verständnis, sie hat mich einfach flankiert, um mich zu schützen, und ich konnte dort bleiben."

Die Aggression um ihn herum war mit Händen zu greifen. "Keine körperlichen Angriffe oder Beleidigungen", betonte er, aber ein sehr feindseliger Ton der Demonstrierenden, von denen einige ihn aufforderten zu gehen. Was ihn ebenfalls auszeichnet, sind die wiederkehrenden Bezüge zu Israel. "Es handelte sich nicht um offen antisemitische Äußerungen, sondern um Andeutungen mit einem ekelerregenden Unterton."

Während des ersten Marsches hatten die Demonstrierenden ihn im Namen ihrer "Freiheit" zur Rede gestellt. Dr. Haegy fügte dieses Wort einfach in großen Buchstaben auf der Rückseite seines Schildes hinzu. "Beim zweiten Mal, als ein Gesundheitspassgegner aggressiv wurde, habe ich mein Schild einfach umgedreht. Es bedeutete eindeutig, dass auch ich das Recht habe, dort zu sein, im Namen meiner eigenen Freiheit.

"Immer noch standhaft"

Was konnte ein einzelner Mann inmitten von etwa 3.000 Demonstrierenden tun? Einfach standhaft bleiben. "In Frankreich gibt es 175.000 Gegner:innen des Gesundheitspasses und 43 Millionen Menschen, die sich impfen lassen. Aber wir hören nur von den Ersteren." Jean-Marie Haegy beobachtet bei der Prozession die Ansammlung von "Antis": Anti-System, Anti-Macron, Gelbwesten, Anti-Gesundheitspass. "Es ist mir egal, ob sie gegen dieses oder jenes sind, und sogar gegen den Gesundheitspass. Ich möchte nur, dass sie geimpft werden."

Der Umgang mit den Demonstrierenden ist zum Teil recht höflich, ja sogar gutmütig. "Ich habe beim ersten Mal mit einer Person gesprochen und bin ihr eine Woche später wieder begegnet. Wir fanden in aller Ruhe heraus, dass keiner von uns seine Meinung geändert hatte." Den größten Eindruck hinterließ bei Dr. Haegy jedoch die Begegnung mit den Pflegekräften. "Sie stellten meine Zahlen in Frage, fragten mich nach meinen Quellen und warfen mir andere Zahlen und andere Quellen vor. Sie haben wirklich versucht, mich zu überzeugen." 

Jean-Marie Haegy wird so schnell wie möglich auf die Straße zurückkehren, auch wenn es nicht der Ort ist, an dem er sich am wohlsten fühlt. "Ich mag die Atmosphäre in der Notaufnahme und auf der Intensivstation, wo ich immer noch im Dienst bin und zur Unterstützung von COVID-Patient:innen gerufen werde." Jean-Marie Haegy will zwar nach seiner Rückkehr von den Westindischen Inseln an seinen Aktionen festhalten, aber er will kein Anführer werden.

"In den sozialen Netzwerken ermutigen mich viele Leute oder fordern mich auf, auf mich aufzupassen. Einige Leute bieten mir an, mich zu begleiten." Der Arzt freut sich, dass er nachgeahmt wird, ist aber auch sehr darauf bedacht, jede Konfrontation mit Menschen zu vermeiden, von denen "einige davon überzeugt sind, dass die Erde flach ist". "Im Idealfall würden wir gerne Demonstrationen für die Impfung sehen, aber an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten." Eine entsprechende Initiative scheint bereits in Lyon Gestalt anzunehmen.

"Wer sind die Nächsten?"

Auf die Frage, ob es eine Verbindung zwischen seinem früheren Engagement und seiner heutigen Präsenz auf dem Kopfsteinpflaster von Colmar gibt, um die Impfung zu verteidigen, erinnert sich Jean-Marie Haegy an einen bestimmten Auftrag. Seine Stimme, bis dahin so energisch, wird schwächer, die Worte werden unzusammenhängend und schwer.

"Ich war in den frühen 1980er Jahren mit Médecins du Monde in Karamoja, Uganda. Es gab Kriege, Hungersnöte und Epidemien. Masern. Die Bevölkerung war dezimiert, so viele Kinder starben. Jeden Morgen wurden die Leichen der Kinder auf Karren gestapelt und zu den Massengräbern gebracht. Es war schwer, wissen Sie. Diese Bilder... Selbst jetzt ist es schwer."  - Dr. Haegy


Auf dem Foto, direkt hinter Dr. Haegy an der Wand, vor dem blauen Schild der "Rue des Serruriers" ist eine Schablonenaufschrift zu sehen. Ein paar Worte, die er nicht bemerkt hatte: "Es braucht dich, um eine Welt zu schaffen."