Der Gesundheitsdatenraum – mehr als nur eine Vision

Real World Data ist wesentlich für die Erforschung von seltenen Erkrankungen und von Orphan Drugs. Friedhelm Leverkus weiß um das Potential eines europaweiten Datenraums.

Forschung von seltenen Erkrankungen profitiert aus Real World Data

esanum: Herr Leverkus, der Europäische Gesundheitsdatenraum zielt darauf ab, national erhobene Daten für die Forschung und die Versorgung länderübergreifend nutzbar zu machen. In welcher Weise erleichtert das die Erforschung und Entwicklung neuer Arzneimittel?

Leverkus: Wesentlich für die Erforschung und Zulassung von Medikamenten sind prospektive klinische Studien. Hier kann der europäische Datenraum einiges verbessern. Einmal geht es darum, dass man die Krankheit besser versteht und gezielter forschen kann. Wir wollen beispielsweise wissen, wo was gebraucht wird. Also wo brauchen Patienten fünf bis zehn Jahre, ehe die Diagnose gestellt wird? Das hilft auch deswegen, weil wir mehr über mehr Patienten erfahren. 

Auch indikationsbezogene Register spielen hier eine hilfreiche Rolle. Wenn also Patienten dort eingeschlossen sind, kann man Registerstudien machen. Wenn wir den natürlichen Krankheitsverlauf der Patienten dokumentiert haben, dann kann man diesen auch als Kontrolle für die Wirkung des Medikaments nutzen.

Das Ganze zeigt sich besonders bei den Orphan Drugs, wo es naturgemäß nicht viele Patienten gibt. Um Aussagen aus Daten zu bekommen, brauchen wir nun aber relativ viele Patienten. Da ist es wünschenswert und hilfreich, in den zusammenarbeitenden Ländern eine gleiche Datenstruktur zu haben, auf die die Forscher zugreifen können. Es geht dabei um verschiedenste Fragen: Wie ist die Patientenjourney, wie laufen die Patienten durch die Gesundheitssysteme, wie viele Patienten gibt es überhaupt in den einzelnen Systemen? Was sind die Krankheitslasten? Mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz kann die Diagnosestellung verbessert und beschleunigt werden. Das maschinelle Lernen der künstlichen Intelligenz benötigt aber viele Patienten.

esanum: Der europäische Gesundheitsdatenraum ist derzeit noch im Aufbau begriffen: Was müssten aus Sicht der Industrie nächste Schritte sein? Welche Hürden stellen sich, welche Probleme sind zu lösen?

Leverkus: Für uns ist wichtig, dass sich der europäische Datenraum so fortsetzt und entwickelt, wie er sich jetzt schon ansatzweise zeigt. Insbesondere als forschende Pharmaindustrie sind wir daran interessiert, Zugriff auf die Daten zu haben. Das ist in Frankreich, Italien und Skandinavien kein Problem. Nur in Deutschland ist es schwieriger. Wir müssen für Forschung und Zulassungen Bescheid darüber wissen, wie Patienten behandelt werden, wie die Verläufe sind. Wir werten als Forscher retrospektive oder prospektive Daten aus – genau wie die Kollegen an den Universitäten. Aber in Deutschland gibt es die gesetzliche Hürde, dass die forschende Pharmaindustrie kein Antragsrecht für den Datenzugriff hat. Dazu gibt es eine nationale Gesetzgebung, die parallel zu den europäischen Gesetzen läuft, die das dann sicher besser regeln wird.

Digitalisierung in der Medizin benötigt Investition und Offenheit

esanum: Der Grad der Digitalisierung in Deutschland gilt noch als rückständig. Was ist zu tun, um auf das Niveau zum Beispiel der skandinavischen Länder zu kommen?

Leverkus: Dafür sind Investitionen und ein offener Mindset notwendig. Beim Datenschutz werden derzeit zwar Daten geschützt, nicht aber die Patienten. Da brauchen wir mehr Offenheit, so wie es in vielen anderen Ländern der Fall ist. Die Dateninfrastruktur muss deutlich besser werden. Ich erinnere an die COVID-19-Pandemie, in der wir entscheidungsrelevante Daten aus dem Vereinigten Königreich oder Israel verwenden mussten, während bei uns noch die Fax-Geräte heiß liefen. Viele Länder sind mit ihren Forschungsdatenzentren schon weiter. Frankreich und die skandinavischen Länder zum Beispiel. Da ist die gesellschaftliche Akzeptanz für die Digitalisierung größer. In Deutschland soll so ein Forschungszentrum dieses Jahr an den Start gehen. Im Koalitionsvertrag steht ja auch ein Schwerpunkt Digitalisierung im Gesundheitswesen. Also kann man hoffen, dass sich bei diesem Thema etwas tut. Doch hat sich bereits etwas geändert. Ich denke u.a. an die Medizininformatik-Initiative an den Universitätskliniken. 

esanum: Wenn sich das Ganze dann in die richtige Richtung bewegt - welchen Nutzen können Ärzte aus dem Europäischen Gesundheitsdatenraum ziehen, insbesondere bei der schwierigen Diagnostik und Therapie seltener Krankheiten?

Leverkus: Gerade bei seltenen Erkrankungen ist die Diagnosestellung besonders schwierig und daher langwierig. Wenn man mehr Daten zur Verfügung hat, kann man mit Methoden der Künstlichen Intelligenz oder Machine Learning betroffene Patienten besser und schneller identifizieren - sodass sie gezielt und zeitnah zu einem Facharzt geschickt werden können. Diese Möglichkeiten werden jetzt im europäischen Verbund allmählich größer. Dadurch nimmt die Forschung zusätzlich Fahrt auf. Wichtig ist es, mehr darüber zu erfahren, welche Medikamente gut helfen, welche Begleittherapien, auch nichtmedikamentöse Therapien, zusätzlich von Nutzen sind, welche Patienten erhöhte Risiken haben. Die gesamte evidenzbasierte Forschung, auch die Versorgungsforschung, können durch mehr vergleichbare Daten nur gewinnen. 

Rare Disease Day

230124-Rare-Disease-Day-Bann..Seit 2008 findet jedes Jahr Ende Februar der weltweite Tag der seltenen Erkrankungen statt. esanum begleitet den Tag und berichtet nicht nur über aktuelle Themen, sondern auch über mögliche Symptomkomplexe, Diagnostik, Therapieansätze und Orphan Drugs zur Behandlung von seltenen Krankheiten. Weitere Beiträge finden Sie im Themenspecial zum Rare Disease Day.