RNA: von der "Ursuppe" zum modernen Impfstoff

Was gibt es zum Thema RNA zu wissen? Prof. Dr. Reinhard Renneberg begibt sich zusammen mit dem Biotechnologen Dr. Burghard König auf Zeitreise – von der "Ursuppe" bis zum COVID-19-Impfstoff.

RNA: Von der DNA-Doppelhelix bis zum COVID-19-Impfstoff

Schon gleich nach der Entdeckung der DNA-Doppelhelix 1953 durch James Watson und Francis Crick versuchte Mitentdecker Crick (allerdings ohne  Erfolg) Struktur und Rolle der RNA zu knacken. Die wichtige Rolle der RNA wurde erst 30 Jahre später durch Sidney Altman (1939-2022) und Thomas Cech (geb. 1947) klarer. Sie teilten sich den Nobelpreis für Chemie 1989. 

Der  Kanadier Altman entdeckte  die RNAse P, die Endstücke von einem der RNA-Moleküle abspaltet. Nach zehn Jahren Forschungsarbeit konnte er nachweisen, dass das untersuchte Molekül nicht -wie üblich bei Enzymen- ein Protein war, sondern eine Kombination eines RNA-Stücks und eines Proteins. Dabei war aber  das RNA-Stück wesentlich für die spezifische biokatalytische Wirkung und wurde durch den US-Amerikaner Jack Szostak (Nobelpreis 2009) genauer aufgeklärt. 

DNA und RNA: Die Frage von Henne und Ei

Und wie sich konnte bei der Entstehung des Lebens in der “Ur-Suppe” die “Henne” DNA ohne “Eier” (Enzymproteine) vervielfältigen? Nur mit RNA, die auch biokatalytisch funktioniert!

In einer "Ur-RNA-Welt" regierten  zunächst ausschließlich die kleinen RNA-Moleküle, die sich ohne fremde Hilfe selbst reproduzierten und dann irgendwann erste Proteine herstellten. Bis dahin galt das unumstößliche Dogma, dass in der Zelle ausschließlich  Enzyme, also Proteine, biokatalytische Aktivität besitzen. Die biokatalytischen RNAs nennt man auch Ribozyme. Nobelpreisträger Szostak war dann der akademische Lehrer von Jennifer Doudna, die gemeinsam mit Emmanuelle Charpentier den Chemie-Nobelpreis 2020 für CRISPR erhielt.

Weitreichende Auswirkungen hatte die Entdeckung der biokatalytischen Ribozyme natürlich für das Verständnis der Entstehung des Lebens. Was war eher da: das Ei oder die Henne? Die Frage war: Wenn es in der ”Ursuppe” keine Enzyme (Eier) gab, wie konnte dann sich die DNA (Henne) vermehren und überhaupt Leben entstehen?

RNA-Welt auf Basis von Ribonukleinsäuren?

Das unterstützt  die Hypothese einer uralten “RNA-Welt”. Diese Welt zur Zeit der Entstehung des Lebens auf der Erde basierte total auf Ribonukleinsäuren als universelle Bausteine sowohl zur Informationsspeicherung als auch zur Katalyse biochemischer Reaktionen. Denn Enzyme auf Eiweißbasis gab, wie gesagt,  es auf der Erde in der “Ursuppe” noch gar nicht.

Der künftige US-amerikanische Nobelpreisträger Jack Szostak vollzog dann mit RNA ein Schlüsselereignis experimentell nach, die Entwicklung der ersten Zellen. Stolz sagte der der Nobelpreisträger Szostak 11 Jahre später, mit Blick auf seine Super-Studentin Jennifer Doudna: "Noch besser als der eigene Nobelpreis ist es, wenn später auch noch die eigene Studentin einen Nobelpreis gewinnt."

Die überraschende Renaissance der RNA: Interview mit Dr. Burghard König

Zur RNA als Impfstoff befragte ich meinen Kollegen, mit dem wir gemeinsam Biotechnologie am MCI in Innsbruck gelehrt hatten. Der führende deutsche Industrielle Biotechnologe Dr. Burghard König (König & Funk Biotech GmbH, Berlin)  hat sich intensiv mit COVID-19 und biotechnologischen Innovationen befasst. Er war bereit für ein Interview.

Ist der Corona-Ausbruch für uns eine total neue Erfahrung?

Dr.König: Der Mensch und alle seine Vorläufer in der Evolution waren stets mit Viren konfrontiert.

Virus-Infektionen haben ständig das menschliche Leben bedroht – im menschlichen Genom finden sich mehr als 5% Virusgenom und das abwehrende Immunsystem hat sich darum herum entwickelt. Viren waren ein treibender Faktor der Evolution! 

Sie gehören zur unbelebten Natur. Sie sind selbst bekanntlich, im Gegensatz zu bakteriellen Krankheitserregern, ohne Wirtszellen nicht fortpflanzungsfähig. Sie haben im Laufe der Evolution mit Bravour gelernt, pro- und eukaryotische Wirtszellen zu infizieren und diese effektiv zur Reproduktion ihres Virus-Genoms und schließlich zur tödlichen Vervielfältigung anzuregen. Es gibt DNA- und RNA-Viren. SARS-CoV-2 (Severe Acute Respiratory Syndrom Corona-Virus-2), der Auslöser der COVID-19-Lungenerkrankung, ist ein RNA-Virus. 

Du hast unseren Studenten in Innsbruck sehr lebendig die Erfolgsgeschichte des mRNA-Impfstoffes erzählt! Wer sind Deine Helden der Story?

Dr. König: Ich habe fünf persönliche Helden der Erfolgsgeschichte.

Beide sind damit, meiner Meinung nach, Kandidaten für einen künftigen Nobelpreis. Ingmar Hoerr, Gründer der Firma Curevac, ist der 5.Held. Er entdeckte 1999, dass stabilisierte RNA cytotoxische T-Lymphozyten und Antikörper induzieren kann. 

Kannst Du nochmals erklären, wie "geschickt" das SARS-CoV-2-Virus vorgeht ?

Dr.König: Das Virus dockt über seine charakteristischen Spike-Proteine sowohl an den ACE 2- als auch an den Neuropilin-1-Rezeptor menschlicher Zellen an. Das ist insbesondere leicht an Lungen- und Schleimhautzellen im Nasen-und Rachen-Bereich. Es kann zu Blutgerinnungsstörungen, Hirnhautentzündungen, Schlaganfällen, Thrombosen und Embolien führen. 

Bei einer Infektion "injiziert" SARS-CoV-2 sein gesamtes RNA-Genom in eine menschliche Zelle. Zunächst wird das Gen für das Enzym Reverse Transkriptase (RT) im Genom durch die Transkriptionsmaschine der menschlichen Zelle abgelesen, also in DNA umgeschrieben und an den Ribosomen, den Proteinfabriken der menschlichen Zelle, in das aktive Enzym RT "übersetzt". 

Nach der Virus-Bauanleitung produziert die gekaperte Zelle dann sämtliche Virus-Proteine und Enzyme an ihren Ribosomen in großen Mengen. Final öffnet dann ein Zellwand-lysierendes Enzym des Virus die menschliche Zellwand und setzt die assemblierten, neugebildeten Viren frei. Das gibt eine Kettenreaktion durch Infektion und Nutzung umgebender Zellen zur Virus-Produktion. 

Wie fand BioNTech die entscheidende Strategie?

Dr.König: BioNTech hatte bis Ende 2019 ein System entwickelt, mit dem in Liposomen verpackte modifizierte RNA in aktiver Form in menschliche Zellen injiziert werden konnte und dort sofort die Produktion des immun-stimulierenden Proteins an den menschlichen Ribosomen auslöst. Essenziell war aber der von Katalin Kaliko und Drew Weissman entwickelte Ersatz von Uracil durch Pseudo-Uridin in BionTechs Vakzin "modRNA".  Die reguläre EMA-Zulassung für den BionTech-Impfstoff wurde dann am 21.12. 2020 erteilt. 

Und das reichte aus für den Erfolg?

Dr.König: Es reicht leider nicht aus, ein pharmazeutisches Startup mit 1.500 Mitarbeitern jahrelang gerade so am Leben zu erhalten. Man braucht Durchhaltevermögen, Verhandlungsgeschick, unternehmerische Ellenbogen und ein großes Netzwerk in der Pharma-Industrie. Ugur Sahin und seine Frau hatten alle vier Gaben. Aber BioNTech brauchte Geld, und zwar sehr sehr viel davon! Glücklicherweise fand BionTech die Gebrüder Andreas und Thomas Strüngmann als strategische Investoren. Sie hatten ihre Firma Hexal 2005 für stolze 5,6 Milliarden Euro an Novartis verkauft. Sie entschlossen sich danach zu etwas völlig Neuem: einen Teil des Geldes in deutsche Biotech-Firmen zu reinvestieren. 

Ugur Sahins und Özlem Türecis erste Firma Ganymed wurde den Brüdern von einem Freund wärmstens empfohlen. 2007 wurde BioNTech gegründet und Ugur Sahin trug den Strüngmann-Brüdern empathisch seine Vision einer personalisierten Krebsbehandlung auf Basis von mRNA vor. Die Brüder entschieden sich, offenbar sehr überzeugt, 150 Millionen € für 10 Jahre unbehinderter freier Forschung zu investieren; bisher ganz ungewöhnlich im hochkontrollierten Deutschland. 

Die Firma Ganymed mit CEO Özlem Türeci hatte bereits 2016 einen monoklonalen Antikörper und den Prototyp eines mRNA-Impfstoffes gegen Speiseröhrenkrebs entwickelt und erfolgreich an die japanische Firma Astellas Pharma für 422 Millionen € verkauft. Die Strüngmanns stockten danach ihre Investition in BioNTech auf und begleiteten dann im Oktober 2019 den Börsengang an der New Yorker Börse. Der Börsenwert lag damals bei 3,4 Milliarden Euro und stieg um das Vielfache an! Die Strüngmanns besitzen wohl immer noch mehr als 50 % der BioNTech-Aktien. 

Das sind ja mutige Investoren! Und wie lief das ab?

Dr. König: Ich persönlich meine: Das zahlt sich nicht nur für die Brüder, sondern für die ganze Welt aus. Es zeigt, wozu "vernünftige" Milliardäre gut sein können. BioNTech hatte 2019 einen Entwicklungsauftrag von Pfizer für ein modRNA-Vakzin für Influenza angenommen. Man kannte sich also gut!

Als die Entscheidung von BioNTech zur Entwicklung des COVID-19- Impfstoffs im Januar 2020 gefallen und Ende März 2020 ein erster erfolgreicher Vakzin-Prototyp vorlag, sprach BioNTech sofort Pfizer wegen der klinischen Entwicklung und der Produktion an. BioNTech bekam dann nach dem sprunghaften Anstieg der Infektionen und Todesfälle in New York im April 2020 die Zustimmung von Pfizer und auch gleich einen Vertrag! 

Kannst Du nochmal den Impfstoff erklären?

Dr.König: Der Impfstoff von BioNTech enthält eine modifizierte mRNA, die eine mutierte Form des vollen Spike-Proteins von SARS-CoV-2 codiert, verkapselt in Lipid-Nanopartikeln. Eine Dosis Comirnaty® (0,3 ml) enthält 30 µg mRNA eingeschlossen in Lipid-Nanopartikeln. Nach Injektion in den Armmuskel wird (allerdings nur minutenlang) Spike-Protein produziert. Dies reicht jedoch aus, um unser Immunsystem zur Produktion von Antikörpern dagegen anzuregen und das T-Helfer-Zellsystem (Langzeit-Antigen-Gedächtnis, Immunität) zu aktivieren.

Also keinerlei Probleme bei der Impfstoff-Herstellung?

Dr. König: Eine große Herausforderung für die mRNA-Technologie ist, dass die mRNA in Liposomen immer noch sehr empfindlich ist und für die Lagerung und zum Transport auf -80°C gekühlt werden muss. Intramuskulär zwei Injektionen Comirnaty®, 21 bis 42 Tage zeitversetzt, geben vollen Schutz gegen schwere Erkrankungen mit COVID-19.

Und dann kam Hilfe von ganz oben…

Dr.König: Als Ugur Sahin die Bundesregierung im September 2020 um finanzielle Hilfe zum Bau einer Impfstoffproduktions-Anlage bat, erinnerte sich Kanzlerin  Angela Merkel an die Novartis-Anlage in Marburg, die stand-by validiert mit kleiner Mannschaft betriebsbereit dastand. Innerhalb von wenigen Tagen wurde der Deal mit Novartis und Angela Merkels Hilfe ausgehandelt: 250 Mio € + 100 Mio € für Tiefkälte-Anpassungen gingen als verlorene Investitionshilfe an BioNTech. Innerhalb von 3,5 Monaten waren die Umbauarbeiten erledigt, alle Genehmigungen und die EMEA-Abnahme erteilt – Produktionsbeginn in Marburg Anfang Februar 2021! 

Das war ja ungewöhnlich, superschnell! Wie lief die Produktion ab? 

Dr. König: Der Impfstoff wurde zunächst von Pfizer in drei Werken in den Vereinigten Staaten (vorrangig in Kalamazoo, daneben in Andover und St. Louis) sowie im belgischen Puurs produziert und abgefüllt. Dafür spielten die atlantiktauglichen Business-Jets von Pfizer als Transportmittel mit Trockeneis über den Flughafen von Antwerpen nach Puurs eine essentielle Rolle. 

Die bulk-mRNA-Dosen für Europa kamen zunächst wohl aus USA und wurden in Puurs vervollständigt, stabilisiert und abgefüllt – die Qualitätskontrolle und Herstellung der klinischen Prüfmuster fanden zunächst wohl an den beiden BionTech-Standorten in Deutschland (Mainz und Idar-Oberstein) statt. Insgesamt unterstützten 30 Zulieferfirmen die Produktion – eine enorme Logistikkette.

Mit Unterstützung der Deutschen Bundesregierung und Begleitung des Bundesgesundheitsministeriums  erwarb BioNTech im September 2020 das aktive Novartis-Impfstoffwerk im Industriepark Marburg für den Ausbau der eigenen Herstellungskapazität . Man konnte  sehr schnell umbauen, adaptieren und alle notwendigen Genehmigungen erhalten. 

Am 28. Januar 2021 erteilte das Regierungspräsidium Darmstadt  nach gemeinsamen Audit mit der EMEA die arzneimittelrechtliche Herstellungserlaubnis. So konnte die BioNTech-Mannschaft bereits im März 2021 die Impfstoff-Produktion aufnehmen und in der Folge die Kapazität drastisch erweitern. Der erste Herstellungsschritt, die Produktion der mRNA, wurde Anfang Februar 2021 aufgenommen. Anschließend erfolgten die Reinigung und Konzentration der mRNA und die Bildung der Lipide. Damit erfolgen in Marburg jetzt drei der vier notwendigen Herstellungsschritte des fertigen Impfstoffs.

Danke für das tolle Interview und die spannende Story, lieber Kollege!

Dr. König: Sehr gerne. Es ist eine biotechnologische Erfolgsgeschichte, wie übrigens auch die Story vom gentechnisch in Bakterien erzeugten Human-Insulin: Wo wir damals bei Hoechst noch 10 Jahre gegen Anti-Gentechnik-Aktivisten prozessieren mussten – heute versorgen die Humaninsulin-Anlagen (inzwischen Sanofi) mehr als 50 Millionen Diabetiker mit hochreinem Humaninsulin.

Quelle:

Reinhard Renneberg (erscheint 2023): Biotechnologie für Einsteiger. 6.Auflage, SAV Heidelberg