Ukraine-Reise mit Medizin-Gepäck

Nahezu im Alleingang hat ein angehender Arzt medizinische Hilfsgüter im Wert von mehr als 50.000 € nach Kiew geschafft. Wie beurteilt er heute die spontane Aktion?

Wie zwei Studenten in wenigen Tagen 50.000 € sammelten

Zwei Tage nach Beginn des Krieges in der Ukraine sitzen der Medizinstudent David Mausolf, zurzeit im Praktischen Jahr an einem Mannheimer Krankenhaus, und der Jurastudent David Gall zusammen und reden über Freunde und Bekannte in Kiew. David Gall hat 2021 im Rahmen eines Studienaustauschs vier Monate in der ukrainischen Hauptstadt verbracht, sein Medizinerfreund Mausolf hat ihn besucht. Ein Schausteller hat auf dem Majdan-Platz ein Foto von ihnen aufgenommen mit Friedenstauben auf der Hand. Wenn sie es jetzt anschauen, wissen sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollen.

Den ganzen Tag über hat David Gall Nachrichten auf dem Handy erhalten, darunter auch die Anfrage einer Freundin von ELSA: Ob er wohl ein paar medizinische Hilfsgüter an die polnisch-ukrainische Grenze transportieren könnte? ELSA, die European Law Students Association, ist ein Verband junger Juristen und Jura-Studenten, eben dieses Netzwerk hat Gall im Jahr 2019 den Kiew-Aufenthalt ermöglicht. 

Rettungsdecken für die Ukraine ausverkauft

Die beiden Davids beschließen, gemeinsam an die Grenze zu fahren, weil es zu zweit deutlich mehr Spaß macht. Und bevor sie ins Bett gehen, posten sie noch rasch einen Spendenaufruf bei Instagram, Samstagnacht um 23.17 Uhr. Nach dem Motto: Wenn wir schon fahren, können wir den Wagen auch vollpacken. Als die beiden am nächsten Morgen aufwachen, sind in den wenigen Stunden bereits mehr als 1.000 Euro an Spenden eingelaufen. Und damit ist plötzlich auch der Druck da, dieses Geld wie versprochen auszugeben.

Es ergibt sich eine grobe Arbeitsteilung: Der eine David (Jura) hat über das ELSA-Netzwerk die Kontakte nach Kiew und fragt ab, was wirklich gebraucht wird und wie es von der Grenze aus weitertransportiert werden kann. Der andere David (Medizin) übernimmt den Einkauf. Dank seiner Arbeit im Krankenhaus hat er zumindest Grundkenntnisse in Notfallmedizin und kann verschiedene Anbieter vergleichen. Das größte Problem dabei: Rettungsdecken beispielsweise kaufen gerade alle Hilfsorganisationen in Deutschland, es sind kaum noch welche zu bekommen. Insofern ist die Frage nicht in erster Linie, wer liefert am günstigsten, sondern eher, was gibt es überhaupt noch? 

Kindergarten in Kassel spendet Isomatten

Während David Mausolf sich von einem befreundeten Rettungssanitäter beraten lässt, welche Schmerzmittel und Notfallmedikamente er besorgen soll, wächst im Hintergrund die Spendenmenge. Auch deswegen, weil Freunde und Bekannte den spontanen Aufruf der beiden Studenten auf ihren jeweiligen Social-Media-Kanälen  teilen. So auch in Kassel, wo Mausolf die Waldorf-Schule besucht hat: Am Montag meldet sich die Leiterin des Waldorf-Kindergartens. Es sei ohnehin schon unter den Eltern diskutiert worden, wie sie helfen könnten, ob die beiden Davids wohl das gesammelte Geld verwenden und auch noch Sachspenden in Form von Isomatten und Schlafsäcken abholen könnten?

"Uns war schnell klar, dass ein Privatauto nicht ausreicht", sagt David Mausolf. "Aber die Situation änderte sich ständig: Mal hatten wir einen Mietwagen, dann hatten wir wieder keinen, dann war der gebuchte Wagen zu klein. Und auch an der Grenze änderten sich die Regeln, erst konnte man noch bis Lviv fahren, dann kamen da nur noch NGO’s oder Leute mit speziellen Genehmigungen rein." "Am Ende", ergänzt David Gall, "hatten wir 14.751,53 € gesammelt von 224 Individualspendern. Dazu eine Großspende aus dem ELSA-Netzwerk über Medikamente für 10.000€ und weitere Sachspenden." Rückblickend bewerten beide die Aktion als "total unprofessionell": Allen Spendern war klar, dass sie keine Spendenquittung erhalten werden, und die beiden Davids nehmen alles mit, was sie bekommen können. Auch die Sachspenden einzelner Spender in Kassel: "Die haben dort die Apotheken leer gekauft", so David Mausolf.

Einer geht noch rein...

 

Über dem Desinfektionsmittel: Ein Notfallrucksack

Sortieren in der Warschauer Kanzlei

Ordnungsgemäß beschriftete Kisten, erschöpfte Helfer 

Ein Sprinter voll mit medizinischen Hilfsgütern

Am Dienstag, den 1. März, brechen die beiden von Mannheim auf, mit einem 16 Kubikmeter fassenden Sprinter, "dem größten, was wir mit normalem Führerschein mieten durften." Noch auf dem Weg zu einem Medizinbedarf-Großhandel in Frankenthal gehen weitere Spenden ein, so dass die Mitarbeiter dort spontan zwei Notfall-Rucksäcke für je 500€ packen. In Frankfurt übernachten die Studenten bei einer Freundin aus dem ELSA-Netzwerk, dann fahren sie am nächsten Morgen um 06.30 Uhr los und sammeln die Spenden in Kassel ein.

Der Sprinter ist schließlich bis unters Dach gefüllt mit großen Hilfsgütern wie Schlafsäcken und Isomatten und dazwischen kleinen Kistchen mit wertvollen Medikamenten. Obenauf die beiden Notfall-Rucksäcke mit Intubator, Blutzuckermessgerät, Blutdruckmanschette, kurzum dem, was früher jeder Arzt im Notfalleinsatz in seinem Handköfferchen trug und moderne Ärzte nun auf den Rücken nehmen. Erst weit nach Mitternacht kommen die Fahrer völlig erschöpft in Warschau an, um 4.20 Uhr morgens sinken sie ins Bett. Doch schon um 10 Uhr sind sie wieder auf den Beinen, um den Wagen bei der renommierten internationalen Rechtsanwaltskanzlei CMS auszuladen: Die stellt ihre Geschäftsräume bereit, um die Waren zwischenzulagern. 

Und die Arbeit ist damit keineswegs erledigt, denn die verschiedenen Medikamente, Verbandsmaterialien und Hilfsmittel müssen fein säuberlich sortiert und die Kartons englisch und russisch beschriftet werden. Die beiden Studenten warten in diversen Warschauer Kaffeehäusern auf den Abend, auf den Geschäftsschluss der Kanzlei. Dann, nach wie vor ziemlich müde, müssen sie noch einmal sieben Stunden ran. David Mausolf besitzt als einziger die nötigen medizinischen Kenntnisse, er dirigiert 15 freiwillige Helfer des Anwaltsbüros und sorgt für die optimale Aufteilung und Verpackung. "Da hab’ ich schon gedacht, sowas macht man nicht jeden Tag, das kann ich mir in den Lebenslauf schreiben", gesteht er. Hat er sich in diesem Moment nicht geärgert, die Spenden der "Apotheken-Leerkäufer" aus Kassel überhaupt angenommen zu haben? Mausolf schüttelt energisch den Kopf. "Ich glaube, das hat sich für die Leute einfach gut angefühlt, dass sie selbst etwas machen konnten, statt 100 € dem Roten Kreuz zu überweisen."

Eine Woche später fahren die Davids noch einmal an die Grenze. Diesmal ist alles schon erprobt und läuft, wie Mausolf selbst sagt, "weniger chaotisch": Er sortiert die Waren und beschriftet die Kartons bereits in Kassel in der väterlichen Garage, das geht dann doch schneller als mit vielen Menschen, die in verschiedenen Sprachen durcheinander wuseln. Außerdem ist der Kreis der Spender und auch der Umfang der Spenden diesmal kleiner, aber den Charme des Direkten, Unbürokratischen behält die Aktion bei: So sammelt Mausolfs Großmutter in ihrem Seniorenheim, und innerhalb weniger Minuten liegen mehr als 1000 € auf dem Tisch. "Davon hat die Aktion gelebt", resümiert David Mausolf, "die Leute kannten uns und haben uns vertraut." 

Fazit: 50.000€ gespendet und fürs Leben gelernt

Auf ihren Social-Media-Kanälen können die beiden Studenten froh und stolz vermelden, dass die Waren des ersten Transports am 8. März in Kiew eingetroffen sind, die des zweiten am 16.März - medizinische Hilfsgüter im Wert von mehr als 50.000 €. Hätte jeder das machen können? "Es haben ja viele gemacht!", sagen beide Davids. "Es hat nur funktioniert, weil so viele Leute mitgemacht haben, deswegen hier nochmal ein Dank an alle Spender, Ratgeber, Lieferanten. Das war ein Gemeinschaftswerk", betont David Gall. Er ist weiterhin in Kontakt mit den Freunden in der Ukraine, die meisten haben Kiew inzwischen verlassen. Medizinstudent Mausolf hat neue Freunde gewonnen, er will Gall zum nächsten ELSA-Treffen in Brüssel begleiten.

"Es ist irgendwie doof, das zu sagen, weil der Anlass so traurig ist", überlegt David Mausolf. "Aber wir haben enorm viel gelernt. Und diese Hilfsbereitschaft zu spüren, die so aufnehmen und kanalisieren zu können, das war was Besonderes. Es hat mir auf jeden Fall auch was gebracht für meinen Werdegang als Arzt. Nicht unbedingt an medizinischen Kenntnissen, aber man steht da ja als 24-jähriger häufig vor einem 50jährigen Patienten und soll dem erzählen, wie er sein Leben besser leben kann. Und da ist es wichtig, solche Erfahrungen zu machen, andere Perspektiven zu gewinnen, die für den Beruf super wertvoll sind."