Die Klitoris: immer noch ein medizinisches Rätsel - wirklich?

Die weibliche Anatomie wird oft unvollständig gelehrt. Prof. Mandy Mangler, Gynäkologin und Autorin von "Das große Gyn Buch", fragt sich, warum die Klitoris weiterhin vernachlässigt wird.

Ein weiblicher Blick auf die Gynäkologie

Um einen weiblichen Blick auf die Gynäkologie zu werfen, habe ich ein Buch geschrieben, im Prozess des Schreibens habe ich mich oft gefragt: Muss das sein? Und immer wieder kam ich zu der Antwort, dass es nützlich ist, den patriarchalen Blick, den wir in unserer Gesellschaft haben und dem zwangsläufig auch die Gynäkologie unterliegt, einmal im Sinne der Frauen und Patientinnen zu hinterfragen. Das war nicht nur interessant, sondern hat fast 500 Buchseiten eingenommen und ist mein Statement an die Gynäkologie, mein Herzensfach. Das Buch soll mit seiner Perspektive Frauen stärken und ihnen Macht über ihren Körper geben. Dies ist in der Medizin nicht immer eine Grundvoraussetzung. 

Standardisierte Darstellungen und die Klitoris

Unlängst habe ich eine Patientin aufgeklärt, die eine Veränderung an der Vulva hatte. Auf dem standardisierten Aufklärungsbogen, der für Operationen bei Frauen überall genutzt wird, fehlte zu dem Zeitpunkt auf dem entsprechenden Standard-Bild der Vulva die Klitoris. Auch in den Anatomie- und Gynäkologie-Büchern, den Standardwerken zur Urologie und denen der klassischen Chirurgie wird das weibliche Becken sehr oft ohne die Klitoris abgebildet. Man kann sich nun fragen, ob dies normal ist. Ich finde eindeutig: nein! Es ist in etwa so, als würde man das männliche Becken ohne Penis abbilden. Das passiert aber nie.

Warum ist das so? Ich kann das nur damit erklären, dass wir als Gesellschaft zu sehr vom männlichen Blick auf die Frau ausgehen. Und dieser führt zu der Annahme, dass die Vagina das Sexualorgan der Frau sei. Aber das ist medizinisch und anatomisch nicht richtig! Genauso irreführend ist die Annahme, dass die Vagina für Orgasmen der Frau zuständig sei. Der weibliche Orgasmus passiert jedoch immer über die Klitoris. Wir als Gesellschaft wissen darüber zu wenig, egal ob Mann oder Frau, da dieses Wissen nicht einfach zu erlangen ist. Denn immer noch wird suggeriert, dass die Vagina das hauptsächliche Geschlechtsorgan ist. Erregung kann über die Vagina gesteigert werden, denn die Klitoris liegt auf der Vagina und wenn dort Bewegung geschieht, dann kann dies auch über die Klitoris gespürt werden. 

Lage der Klitoris

Das lückenhafte Wissen zur weiblichen Anatomie führt nicht nur zu Missverständnissen in heteronormativen Sexualkontakten zwischen Frauen und Männern. Es ist auch medizinisch relevant, weil in diesem Bereich auch operiert wird. Die Klitoris verläuft ja von der sichtbaren Spitze und seitlich in die Vulva. Dort wird oft operiert, ohne dass die Operateurinnen und Operateure die Anatomie der Klitoris kennen und berücksichtigen. Im Medizinstudium kommt das Thema fast nicht vor. Und man muss sich dieses Wissen später relativ mühsam selbst aneignen. 

Deswegen wird bei bestimmten Operationen tatsächlich die Klitorisanatomie nicht beachtet. Auch wenn nach Geburten genäht werden muss, passieren aus Unkenntnis über die Lage der Klitoris, besonders der Klitorisschwellkörper, Nähte, die Narben an der Klitoris hinterlassen können. Fehlerhafte Anatomiebücher verbreiten lückenhaftes Wissen. Jüngst wurde ein neues Anatomiebuch mit der korrekten Abbildung veröffentlicht. Das war auch für mich spektakulär und eine neue Sicht.

Die Rolle der Gebärmutter in der medizinischen Praxis

Das Problem des männlich geprägten Blickes auf die weibliche Anatomie reicht noch weiter. Ich denke an die Gebärmutterentfernung aufgrund gutartiger Erkrankungen - die geschieht in Deutschland über 100.000 mal im Jahr. Das ist eine hohe Zahl, eine der höchsten in Europa. Denn besonders in skandinavischen Ländern sind gebärmuttererhaltende Operationen viel üblicher. Das deutsche Vorgehen bleibt hinter den Möglichkeiten zurück. Es bleibt zusätzlich auch zu wenig abgestimmt mit den Bedürfnissen der Zielgruppe - also der Frauen. Zu mir in die Sprechstunde kommen immer wieder Frauen, die keine Hysterektomie wollen und andere Wege der Behandlung suchen. Es gibt genügend Möglichkeiten, klinische Probleme ohne Hysterektomie zu lösen. Man kann sich nun fragen, ob es einen medizinischen Nachteil hat, die Gebärmutter zu entfernen, obwohl das nicht zwingend nötig wäre? Zunächst kann man wissen, früher hatten wir sogar 300 000 Gebärmutterentfernungen pro Jahr. Aber inzwischen hat sich die Medizin weiterentwickelt. Der Wunsch der Frauen ist es, Organe möglichst zu erhalten, statt sie zu entfernen. Die Gebärmutter ist nicht nur ein emotional belegtes Organ, sodass viele Frauen es lieber behalten wollen. Ein weiterer Grund ist die Körperintegrität. Jedes Organ ist wichtig, eine Operation kann Narben nach sich ziehen. Und die Gründe sind ja auch letztlich egal - es ist der Körper der Frau. Und wenn diese es möchte und es möglich ist, die Gebärmutter zu erhalten, sollte das auch so angeboten werden. 

Auswirkungen der Hysterektomie auf die Sexualität

In den Leitlinien zur Gebärmutterentfernung findet sich fast nichts zur Sexualität nach einer Gebärmutterentfernung. Und das wenige, was zu finden ist, behauptet, dass nach Gebärmutterentfernung gar keine Veränderung der Sexualität entsteht. Aber es ist Tatsache, dass die Gebärmutter bei manchen Frauen mit ihrer Sexualität zusammenhängt. Gerade letzte Woche hatte ich wieder eine Patientin, die mir das drei Monate nach ihrer Operation klar beschrieben hat. Ihre Orgasmusintensität hatte nach der Gebärmutterentfernung abgenommen. Für sie war die Gebärmutter ein Resonanzkörper für den Orgasmus. Sie nahm wahr, dass dies nach der Operation anders war. Durch die Schilderung von Patientinnen erst habe ich verstanden, dass eine Hysterektomie durchaus Veränderungen in der Sexualität nach sich ziehen kann. Weil die Gebärmutter über die Nerven, die sie versorgen, beim Sex erregende Gefühle bereiten kann. Sie kann damit auch den Orgasmus verstärken. Das ist nicht bei allen Menschen so. Aber eben bei manchen durchaus. Und das sollte man ihnen auch so erklären, wenn es um eine Operation geht. Im medizinischen Kontext müsste es heißen: als Nebenwirkung kann eine Orgasmusveränderung auftreten.

Wir wissen gar nicht, für wie viele Frauen die Gebärmutter nach abgeschlossenem Kinderwunsch noch wichtig ist, weil wir das nicht untersucht haben. Forschende untersuchen lediglich, ob die Frau noch eine Befeuchtung der Vagina erlebt - wiederum eine sehr männliche Perspektive. Die Fragestellung ist vereinfacht: Bleibt die Frau penetrierbar? Wenn ja, ist die Schlussfolgerung, dass sie nach Gebärmutterentfernung keine sexuellen Einbußen erlebt. Und das ist wirklich zu kurz und gedacht und unterliegt sehr stark einem „male gaze“- einem männlichen Blick auf den Frauenkörper.

Patientenorientierte Medizin

Es ist interessant, dass jetzt das kluge Konzept von PROMS und PREMS - patient reported outcome/experience measures in die Medizin Einzug hält. Diese stellen die Frage: Was ist Gesundheit aus Perspektive der Zielgruppe, also der Patientinnen und Patienten und wie definieren sie die Qualität der Behandlung. 

Dies ist ein sehr starker Schritt in Richtung einer patientinnenzentrierten Medizin. Denn bei jeder Krankenhausleistung ist es wichtig zu fragen: Was braucht die Patientin, was verbessert ihr Leben? Und nicht: Was denke ich, verbessert das Leben der Patientin. Dann schaffen wir einen Perspektivwechsel, der direkt gut für die Gesundheit aller Menschen ist - weiblichen und männlichen. 

Das große Gyn Buch

Mehr zum Thema weibliche Gesundheit? Im Oktober 2024 ist Das große Gynbuch von Prof. Dr. Mandy Mangler erschienen.

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