Geriatrie braucht deutlich mehr Kapazität

Bis 2030 wird ein Anstieg geriatrischen Fallzahlen um mehr als zehn Prozent erwartet. Der Bundesverband Geriatrie fordert einen Ausbau der geriatrischen Versorgungskapazitäten um rund 28 Prozent.

Anstieg geriatrischen Fallzahlen um mehr als zehn Prozent bis 2030 erwartet

Angesichts des dynamischer werdenden demografischen Wandels prognostiziert der Bundesverband Geriatrie schon mittelfristig einen erheblichen Zusatzbedarf an Betten und Personalkapazitäten sowohl in der akuten als auch in der rehabilitativen geriatrischen Versorgung. Zu erwarten sei bis 2030 ein Anstieg der geriatrischen Fallzahlen um mehr als 50.000 Behandlungsfälle im Vergleich zu 2019, das ist ein Plus von rund zehn Prozent, heißt es in dem am 27.04. vorgelegten vierten "Weißbuch Geriatrie".

Der Vorsitzende des Bundesverbandes Geriatrie, Dr. Michael Musolf, kritisierte, dass öffentlich erhobene und zugängliche Daten unvollständig und nicht aktuell seien. Die letztverfügbaren Daten von destatis stammen aus dem Jahr 2019 und sind kein vollständiges Abbild der Realität; der Verband hat daher öffentliche Daten mit eigenen Erhebungen ergänzt.

Danach hat sich die Zahl der Betten

Nach wie vor existieren vor allem außerhalb von Ballungsgebieten Versorgungslücken, so dass die Erreichbarkeit einer Klinik mit geriatrischer Qualifikation nicht binnen 25 Minuten Fahrzeit erreichbar ist.

Fallzahl: Plus 27 Prozent binnen sechs Jahren

Während die Gesamtfallzahl der Krankenhäuser zwischen 2013 und 2019 nur geringfügig um drei Prozent gewachsen ist, hat die Zahl der geriatrischen Fälle um 27 Prozent oder 83.000 auf 375.000 zugenommen. 

Zu beobachten ist eine Verschiebung der Morbiditätslast in höhere Altersgruppen. So hat die Hospitalisierungsrate bei den unter 75-Jährigen aufgrund medizinischen Fortschritts und zunehmender Ambulantisierung der Medizin abgenommen, sie steigt jedoch bei den über 75- und insbesondere bei den über 80-Jährigen an – bei insgesamt zunehmender Lebenserwartung. 

Trotz etwas sinkender Hospitalisierungsraten bei den jüngeren Alten (65 bis 75 Jahre) erwarten die Autoren des Weißbuchs einen Anstieg der geriatrischen Fallzahlen aufgrund der Alterung der Babyboomer um fast 34 Prozent auf knapp 52.000 im Jahr 2030. Die Zahl der geriatrischen Fälle bei den 75 bis 80-Jährigen könnte der Prognose zufolge um 4,6 Prozent auf gut 71.000, die Fallzahl bei über 80-Jährigen um 8,5 auf fast 285.000 steigen. Insgesamt wäre damit ein Anstieg der Fallzahlen von rund zehn Prozent oder gut 38.000 zwischen 2019 und 2030 zu erwarten. Eine nahezu gleich Zunahme der Fallzahlen prognostiziert das Weißbuch für die geriatrische Reha: plus 9,8 Prozent oder 12.000 zusätzliche Fälle. Dies würde eine Aufstockung der Kapazitäten um 7.500 Betten in der Akutversorgung und 1.400 Betten in der Rehabilitation erfordern, um den Status quo in der Versorgung dieser Patientengruppe zu sichern.

Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die gegenwärtige Versorgung bei weitem nicht überall den Soll-Vorgaben des Bundesverbandes Geriatrie erfüllt. Danach sollten 50 geriatriespezifische Betten je 10.000 Einwohner über 70 Jahre sowie 38 Betten in Kliniken für Geriatrie und 12 Betten in der geriatrischen Reha vorgehalten werden. Dieses Soll wird im Bundesdurchschnitt um 54 Prozent unterschritten. Lediglich Hamburg und Berlin (über-) erfüllen diese Idealvorgabe. Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg, Niedersachen und Sachsen unterschreiten die Vorgabe um 70 Prozent und deutlich mehr.

Ein Problem: Strukturkonservative Ärztekammern

Weitaus schwieriger als der Ausbau der Sachkapazitäten dürfte sich die Personalsicherung gestalten, dass aufgrund des demografischen Wandels in den kommenden Jahren mehr Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten aus dem aktiven Berufsleben aussteigen als neu anfangen werden. Dabei sei schon die Beurteilung der vorhandenen Personalkapazitäten ausgesprochen schwierig, weil nicht genau bekannt ist, wie viel Arbeitskraft in einem Krankenhaus für spezielle geriatrische Leistungen aufgewendet wird. 

In jedem Fall wünschenswert, so Vorstandschef Musolf und Verbandsgeschäftsführer Dirk van den Heuvel, wäre die bundesweite Etablierung eines Facharztes für Geriatrie. Realisiert ist dies gegenwärtig nur in drei Ärztekammern. Alternativ sollte erwogen werden, die Geriatrie zumindest zu einem Schwerpunkt in geeigneten Fachgebieten aufzuwerten. Die gegenwärtig verbreitete Weiterbildungspraxis, wonach das Fachgebiet Geriatrie nur als Zusatzbezeichnung anerkannt wird, entspreche längst nicht mehr dem internationalen Standard, der die Geriatrie als eigenständiges medizinisches Fachgebiet definiert. 

Ursächlich dafür, so van den Heuvel, seien Beharrungskräfte und Strukturkonservatismus in der ärztlichen Selbstverwaltung. Erfreulich sei dagegen die Entwicklung in der Pflege, die in ihrem Qualifikationsspektrum auch aufgrund der zunehmenden Akademisierung wesentlich innovativer und flexibler auf zukünftige Herausforderungen reagiert habe.