Das Mikrobiom: Schritt zur personalisierten Medizin?

Ein gestörtes Mikrobiom ist Auslöser vieler Erkrankungen. Jüngstes Beispiel: die schweren COVID-19-Verläufe. Potenziale für die Medizin der Zukunft.

Interview mit Prof. Vassilios Fanos

Übersetzt aus dem Italienischen

Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin 2022 sprachen Sie zum Thema "Mikrobiom bei COVID-19: Ein unerkannter Faktor?". Was sind die wichtigsten Aussagen aus Ihrer Rede?

Das Mikrobiom spielt eine entscheidende Rolle im Hinblick auf unseren Gesundheitszustand. Daher überrascht es auch nicht, was verschiedene Studien über die Rolle des Mikrobioms im Zusammenhang mit COVID-19 sagen. Der Ausbruch, der Verlauf, der Schweregrad, das Ansprechen auf die Behandlung und die Impfstoffe sowie das Ende der Krankheit können stark vom Mikrobiom beeinflusst werden, und zwar nicht nur vom Darmmikrobiom, sondern auch vom Mikrobiom in anderen Körperregionen.

Patienten mit einem veränderten Mikrobiom haben eine ganz andere Krankheitsanfälligkeit und ein unterschiedliches Krankheitsbild als Patienten ohne eine solche Dysbiose. Schon vor der Pandemie gab es reichlich Literatur mit Hinweisen darauf, dass die Gabe von Probiotika zur Modulation der Mikrobiota sinnvoll ist, um einen eubiotischen Zustand zu erreichen oder aufrechtzuerhalten; und zwar nicht nur zur Vorbeugung, sondern auch zur Behandlung von Krankheiten.

Außerdem spielt das Mikrobiom eine Rolle bei der Verbreitung des Sars-CoV-2-Virus im Körper und beeinflusst das Immunsystem. Zudem kann das Phänomen "more gut in the lung" zu einer bakteriellen Translokation führen, bei der Darmbakterien die Lunge besiedeln. Das natürliche Gleichgewicht der Mikrobiota in der Lunge wird dann gestört und es kommt zu einer Reaktion des Immunsystems, die bei manchen Menschen zu einem Zytokinsturm führen kann, bei dem IL-6 und IL-8 überwiegen. Die genaue Erforschung der Darm-Lungen-Achse kann uns in der Krankenhauspraxis sehr weiterhelfen.

Könnte das Mikrobiom auch eine Rolle beim Long-COVID-Syndrom spielen?

Das Mikrobiom von Patienten mit COVID-19 unterscheidet sich nicht nur von dem gesunder Patienten, sondern auch von Patienten mit anderen Formen der Lungenentzündung. Bei einigen Patienten hält sich diese Dysbiose über einen langen Zeitraum und ist für das verantwortlich, was gemeinhin als Long-COVID bezeichnet wird. Einige Studien scheinen bestimmte Bakterienstämme eher als andere mit der erhöhten Anfälligkeit bestimmter Organe in Verbindung zu bringen.

Anhand der Auswertung des Mikrobioms ließe sich vorhersagen, welche Patienten voraussichtlich an dem Syndrom leiden werden und welche nicht.  Es könnten präzise Maßnahmen ergriffen werden, um die Dysbiose mit Probiotika zu regulieren und langfristige Auswirkungen von COVID-19 zu vermeiden.

Sie empfehlen häufig einen "mikrobiomischen" Ansatz zur Behandlung von Krankheiten, der den Menschen als ganzheitliches und nicht als isoliertes Wesen betrachtet. Wie lässt sich dieser Ansatz in die Praxis umsetzen?

Stoffwechselprodukte in unseren Körperflüssigkeiten beeinflussen unser gesamtes Leben. Dieser Tatsache wird sich die moderne Medizin immer bewusster. Aus Studien geht inzwischen klar hervor, dass wir keine Einzelwesen, sondern wahre Ökosysteme sind und dass der Einfluss des Mikrobioms auf den Einzelnen genauso bedeutend ist wie der des Genoms, wenn es um unsere Persönlichkeit und Empfänglichkeit für bestimmte Krankheiten geht. Das Mikrobiom hat bereits in den ersten Momenten des Lebens eines jeden Menschen, von der Zeugung an, Einfluss auf sein weiteres Leben.

Für eine erste Beurteilung eines Patienten ist es jedoch unerlässlich, über Daten zu diesem spezifischen Aspekt zu verfügen. Hoffentlich werden wir in naher Zukunft in der Lage sein, die Stoffwechselprodukte von Patienten schnell zu untersuchen, um so ein umfassendes Verständnis über das Mikrobiom zu erhalten. Mit einfach zu verwendenden und schnell auswertbaren Analysekits könnten wir herausfinden, welche Bakteriengruppen im Mangel oder im Überfluss vorhanden sind, und dann eingreifen und das fehlende Gleichgewicht wiederherstellen.

Wir brauchen noch Zeit und Geld für die Forschung auf dem Gebiet der Metabolomik, damit eine Stoffwechselanalyse in der Notaufnahme oder in einer Hausarztpraxis mit einem praktischen Teststreifen (wie dem für Urin) durchgeführt werden kann.

Kann der Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Erfassung digitaler Daten, also Big Data, bei der Entwicklung einer vollständig auf den Patienten zugeschnittenen Humanmedizin eine Rolle spielen?

Künstliche Intelligenz ist eine Grundvoraussetzung in der modernen Medizin. Mit ihrer Hilfe kann die Ärztin oder der Arzt die Fülle von Daten und Variablen verstehen, um Schlussfolgerungen ziehen zu können.

Ohne den Einsatz aktueller und zukünftiger Technologien wäre es uns nicht möglich, alle verfügbaren Informationen über jeden einzelnen Patienten zu erfassen und sie mit denen tausender anderer Patienten in Beziehung zu setzen. Die personalisierte Medizin kann nicht ohne die enorme Hilfe von künstlicher Intelligenz bei der Datenerfassung und -analyse auskommen.

Natürlich muss all dies auf praktische Art und Weise geschehen, ansonsten hat der einzelne Patient keinen Nutzen, wenn er mit einem Symptom zum Hausarzt kommt.

Für jeden Patienten eine maßgeschneiderte Behandlung, vergleichbar mit einem Maßanzug vom Schneider. Ist das die realistische Zukunft der Medizin?

Bei den meisten Krankheiten, mit denen wir heute in Berührung kommen, ist die Analyse von Umweltfaktoren von grundlegender Bedeutung, manchmal fast noch wichtiger als erbliche Faktoren. Dabei nimmt die Metabolomik eine wichtige Rolle ein. In unmittelbarer Zukunft wollen wir das Mikrobiom positiv verändern, um bei Bedarf ein individuell angepasstes künstliches Mikrobiom zu schaffen, mit dem wir ein bestimmtes Leiden beheben und die Gesundheit erhalten können. Die wirkliche Revolution wird dann kommen, wenn wir nicht mehr auf eine Krebsdiagnose warten müssen, bevor wir eingreifen, sondern wenn wir den Gesundheitszustand jedes einzelnen Patienten im Voraus bewerten und alle Maßnahmen ergreifen können, um ihn gar nicht erst krank werden zu lassen.

Kurzbiographie Prof. Vassilios Fanos

Prof. Vassilios Fanos ist Direktor der Fakultät für Pädiatrie an der Universität Cagliari und der Neugeborenen-Intensivstation am Ospedale Policlinico di Monserrato (Azienda Ospedaliera Universitaria di Cagliari)

Mehr aktuelle Highlight-Themen aus der Inneren Medizin erwarten Sie auf unserer Seite zum 128. DGIM-Kongress.




 

Referenzen:
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