Diabetes neu denken – Subgruppen und Prädiabetes werden relevanter

"Diabetes neu denken – Vielfalt & Individualität": Was es mit dem Motto des 57. Diabetes Kongress zu tun hat, erklärt Prof. Dr. Matthias Blüher im Interview.

Interview mit Prof. Dr. Matthias Blüher

Prof. Blüher, gibt es ein zentrales Anliegen des diesjährigen Diabetes Kongresses, das Sie kurz zusammenfassen können?

Blüher: Hintergrund unseres Mottos ist, dass durch die Entwicklungen der letzten Jahre eine individuelle Therapie von Menschen mit Diabetes leichter geworden ist, dass wir aber auch als Behandelnde gezwungen sind, Therapieziele, Möglichkeiten und ungelöste Probleme neu zu denken. Insgesamt macht diese Vielfalt den Reiz des Faches Diabetologie aus und bleibt hoffentlich auch für den klinischen und wissenschaftlichen Nachwuchs ein anspruchsvolles und spannendes Betätigungsfeld. 

Was werden die Kongress-Highlights sein?

Blüher: Die Therapiemöglichkeiten für Menschen mit Diabetes haben sich durch Innovationen in der Pharmakotherapie und bei Diabetes-Technologien in den vergangenen Jahren enorm verbessert. Durch den Austausch beim diesjährigen Kongress wollen wir einen Beitrag leisten, die Behandlung von Menschen mit Diabetes noch weiter zu verbessern. Dabei möchten wir die Vielfalt und Individualität in das Zentrum unserer Veranstaltung rücken und haben deshalb folgende thematische Schwerpunkte gesetzt: 

Welche Themen der Versorgungslage der Millionen an Diabetes Typ 1 und Typ 2 Erkrankten erscheinen vordringlich?

Blüher: Die Grundidee ist, die Lebensqualität unserer Patienten messbar zu steigern. Wir werden Pro- und Contra-Diskussionen dazu haben, wie die Patienten besseren Zugang zu Diagnostik und modernen Therapien bekommen, wie die hohe Dunkelziffer an nicht diagnostizierten Erkrankten reduziert werden kann. Und es geht um Möglichkeiten, die dauerhaften Therapien besser zu strukturieren und nicht zuletzt auch um die Frage, wie schnell sich Forschungsergebnisse in die Praxis umsetzen lassen. Bei aller Euphorie über den Fortschritt in der medikamentösen Therapie und die beeindruckenden technologischen Entwicklungenen im Bereich von Glukosesensoren, bei Geräten und Algorithmen zur automatischen Insulindosierung und Hilfsmitteln, sollten wir die klassischen Säulen der Diabetestherapie nicht vergessen. Auch dafür steht dieser Kongress. Welche Rolle spielen also beispielsweise die Bewegungstherapie oder eine gesündere Ernährungsweise? Und: Können durch gezielte Maßnahmen der psychologischen Unterstützung oder durch Verhaltenstherapie individuelle Ziele besser erreicht werden?

Gibt es wissenschaftliche Aspekte, die Diagnostik und Therapie derzeit weiter voranbringen?

Blüher: Ein großes Thema des Kongresses wird sein, ob zukünftig eine Remission des Typ 2 Diabetes durch Verhaltensmaßnahmen und neue Medikamente wahrscheinlicher ist. Dabei spielen auch Inkretin-basierte Therapien eine wichtige Rolle. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträgern der DDG wider.

In großer Geschwindigkeit wurden in den letzten Jahren Medikamente entwickelt, die eine normnahe Blutzuckereinstellung leichter möglich machen, die kardiovaskuläre Endpunkte senken können, die Nierenfunktion und Herzleistung nachhaltig verbessern und nicht zuletzt zur Gewichtsreduktionen beitragen, die bis zu einer Remission des Typ 2 Diabetes führen können. Aber auch für Menschen mit Typ 1 Diabetes gibt es in Zukunft innovative Therapiekonzepte, die in Symposien des Kongresses erstmals in Deutschland vorgestellt werden.

Was tun Sie in der Deutschen Diabetes Gesellschaft, um die Facharztausbildung, um mehr Nachwuchs anzulocken?

Blüher: Die Diabetologie ist deshalb so attraktiv, weil sie in der Forschung, bei den Diagnose- und Therapiemöglichkeiten besonders dynamisch ist. Wir sind direkt an der Schnittstelle zu ganz vielen anderen Disziplinen: Sozialmedizin, Metabolische Chirurgie, bis hin zum Augenarzt, zur Dermatologie, zur Psychologie. Eigentlich sind alle Aspekte des Lebens in der Diabetologie als Querschnittsfach vereint. Auch das wird der Kongress widerspiegeln.

Klinische und niedergelassene Diabetologen sowie auch Hausärzte sind eng vernetzt, um den diabetologischen Nachwuchs zu sichern. Es gibt Programme wie “Junge Diabetologen”, sowie Exzellenzschulen für den besonders talentierten Nachwuchs. Wir sind überzeugt, dass wir ein sehr spannendes und dynamisches Fach haben. Zu Karrierefragen in der Diabetologie bieten wir auf dem Kongress ebenfalls Veranstaltungen an. 

Welche Erkenntnisse hat die Diabetologie aus der COVID-19-Pandemie gewonnen? 

Blüher: Wir haben gelernt, dass Menschen mit Diabetes ein höheres Risiko für schwere Verläufe bei Infektionskrankheiten  haben, insbesondere auch bei virusbedingten Erkrankungen. Sodass wir noch mehr tun müssen, um Ziele wie die Verhinderung von kardiovaskulären Erkrankungen und Blutzuckersenkung besser zu erreichen - und damit auch helfen, schwere Infektionskrankheiten besser zu überstehen. Und wir haben auch gelernt, dass Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu sozialer Isolation und zu Gewichtszunahme geführt haben. Der Auftrag, den wir daraus ableiten, ist, frühzeitiger zu therapieren und Diabetes hier auch als Risikofaktor für andere Erkrankungen ernst zu nehmen.

Prof. Dr. Matthias Blüher

Prof. Dr. Matthias Blüher ist Endokrinologe und Diabetologe sowie Oberarzt am Universitätsklinikum Leipzig in der Klinik und Poliklinik für Endokrinologie. 2023 ist er Kongresspräsident beim DDG Diabetes Kongress.