Sechs Jahre bis zur Rundum-Schmerztherapie – das muss nicht sein

10 bis 15 Millionen Menschen in Deutschland leiden an chronischem Schmerz. Doch bis zur Schmerztherapie ist es oft ein langer Weg. Eine neue Tagesklinik für Schmerzmedizin soll Abhilfe schaffen.

Dr. Marc Seibolt über die Tagesklinik für Schmerzmedizin

Dr. Seibolt, was ist neu an der neuen Schmerzklinik?

Seibolt: Zuerst natürlich die Adresse und die Räumlichkeiten - wir gehören aber weiter zum Verbund des Algesiologikums. Die Klinik ist von 250 auf 1.000 Quadratmeter gewachsen. Insgesamt gibt es jetzt dreißig Behandlungsplätze. Wir konnten in der Corona-Pandemie nachweisen, dass wir einen wachsenden Bedarf an Therapieplätzen haben. Aktuell haben wir eine Wartezeit von rund drei Monaten. Das heißt, wir sehen jetzt schon den Bedarf für weiteren Zuwachs. 

Jeder Patient ist anders. Wie gehen Sie vor, um jedem gerecht zu werden?

Seibolt: Zunächst kommen die Patienten ein bis zwei Tage zu uns für ein Assessment. Wir haben hier Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachbereiche: Anästhesiologen, Neurologen, Unfallchirurgen, Orthopäden, Allgemeinmediziner, Psychotherapeuten, Bewegungstherapeuten. Konkret heißt das: Jeder Patient  wird von einem Arzt, einem Psychotherapeuten, einem Bewegungstherapeuten untersucht. So bekommen wir einen 360-Grad-Blick auf den Patienten. Dann setzen wir uns im Team zusammen und diskutieren den richtigen Weg für jeden einzelnen. Es wird entschieden, ob er im ambulanten Bereich oder auf der Station betreut werden soll. Oder ob er an unserem interdisziplinären multimodalen Programm der Tagesklinik teilnehmen kann. Das wird dann ausführlich mit dem Patienten besprochen, damit er einschätzen kann, ob er sich das Programm so vorstellen kann. 

Wie geht es dann weiter?

Seibolt: Wir haben jeden Tag eine Teamsitzung, in der wir uns über alle Patienten austauschen. Wir haben Entspannungsverfahren, Edukationen, Trainingsanleitungen - alles wird zum Nachlesen auch schriftlich zur Verfügung gestellt - in unserem Therapieprogramm. Patienten lernen verstehen, was Schmerz ist, wie er entsteht, weitergeleitet und wie er zu einem chronischen Schmerz wird. Und natürlich kümmern sich die Ärzte auch, wo es sinnvoll ist, um die medikamentöse Versorgung. Wir stellen also den Strauß der Möglichkeiten vor, aus dem sich der Patient seine Blume aussuchen kann. Denn nur, was ihm gefällt, setzt er auch um.

Wie ist die Therapie strukturiert?

Seibolt: Wir haben beispielsweise eine offene Gruppe an zwei Tagen pro Woche, in der wir die Bereitschaft und Motivation der Patienten zur Therapie feststellen können. Eine Art Orientierung, für den Patienten, aber auch für die Therapeuten. Zudem  gibt es Gruppen, in denen die Patienten  fünf Tage pro Woche betreut werden, insgesamt also 20 Therapietage und eine Gruppe, die sechs Wochen mit drei Tagen pro Woche läuft. Letzteres ist vor allem für stark psychisch belastete Patienten gedacht. Beide Gruppen sind aber hochintensiv und fordern den Patienten im positiven Sinne.

Wer sind Ihre Patienten?

Seibolt: Die Menschen, die in der Algesiologikum Tagesklinik für Schmerzmedizin Hilfe bekommen, erleiden fast jeden Tag mehrfach Schmerzattacken, häufig an der Wirbelsäule, und sie kämpfen mit dem chronischen Schmerz bereits seit Jahren. Sie sind zu zwei Dritteln weiblich und im Schnitt 49 Jahre alt. 80 Prozent leiden an Rückenschmerzen. Eine große Gruppe sind Kopfschmerzpatienten. Es ist leider so, dass noch nicht alle Hausärzte, Orthopäden oder Neurologen wissen, dass sie ihre Schmerzpatienten zu unseren Spezialisten schicken können, wo wir uns dem Problem systematisch widmen. Es dauert im Durchschnitt sechs Jahre, bis die Patienten bei uns ankommen. 

Was ist das Therapieziel?

Seibolt: Ziel ist die Schmerzreduktion und Selbstwirksamkeit. Schmerz ist subjektiv und das Schmerzerleben verändert sich. Wenn wir also psychische Belastungen, Stress und Ängste reduzieren, depressive Symptome besser in den Griff kriegen, wird das Erleben anders. Es gibt Patienten, die haben weiterhin Schmerzen von 6/10 auf der Numerischen Rating Skala (NRS) - aber sie kommen damit klar. Wir tun unser Bestes, geben dem Patienten einen Koffer mit Therapievorschlägen, mit dem er selbst eine Menge für sich tun kann und unabhängig werden kann. 

Wie sieht es mit dem Therapieerfolg aus?

Seibolt: Das Ziel wird in nahezu allen Fällen erreicht. Wir haben über 1.600 Fragebögen ausgewertet, 500 flossen in die Studie ein. Wir sahen in allen Bereichen - psychische Gesundheit, physiologische Leistungsfähigkeit und Schmerz - signifikante Verbesserungen. Das heißt, die Lebensqualität hat direkt nach unserer Therapie deutlich zugenommen. Seit 2016 haben wir genug Daten gesammelt, sodass wir jetzt eine Langzeitstudie starten können. 

Warum steigt eigentlich die Zahl der Schmerzpatientinnen stetig?

Seibolt: Äußere Faktoren, die zu Schmerz führen, so genannte Yellow Flags, nehmen zu. Das Thema Depression ist nach Corona und in Kriegszeiten noch präsenter. Auch wachsende Belastung am Arbeitsplatz drückt sich häufig in Schmerzsymptomen aus. Unsere schnelllebige Gesellschaft erhöht Belastungen und Verschleiß. Wir haben sitzende, statische Arbeitstätigkeiten. Und die Bevölkerung wird älter und unfitter. 

Welche Voraussetzungen gelten für die Kostenübernahme ihrer Leistungen durch die Kassen?

Seibolt: Das ist sehr übersichtlich: Schmerzen länger als sechs Monate und ein ausgeschöpftes ambulantes Therapieprogramm.

Dr. med. Marc Seibolt

Dr. Marc Seibolt ist seit Oktober 2015 bei den Algesiologikum – Zentren für Schmerzmedizin, zunächst als Oberarzt in der Algesiologikum – Klinik für Schmerzmedizin im Diakoniewerk München-Maxvorstadt, seit Dezember 2016 als Arzt im Algesiologikum MVZ München tätig. Seit Oktober 2019 ist er zudem Chefarzt in der Algesiologikum Tagesklinik für Schmerzmedizin.