Zwischen Traumberuf und alltäglichem Wahnsinn

"Im Gesundheitssystem verwalten wir immer häufiger den Mangel" , so Dr. Iris Dötsch, niedergelassene Diabetologin in Berlin. Sie kritisiert den Mangel an Grundversorgung bei gleichzeitig erhöhtem Beratungsbedarf bei Patienten mit Diabetes.

"Im Gesundheitssystem verwalten wir immer häufiger den Mangel"

Eines weiß ich für 2023: Die Arbeit für mich und meine Praxiskolleginnen wird nicht weniger. Diabetes Mellitus ist weltweit auf dem Vormarsch. Man erwartet eine Verdopplung der Erkrankungszahlen bei Typ-1-Diabetes bis 2040. Die genauen Gründe sind nicht ganz klar. Autoimmundiabetes wird auch durch Automimmunreaktionen getriggert. Auch die Neumanifestationen für Typ-2-Diabetes steigen kontinuierlich an. Das hat natürlich viele verschiedene Ursachen. Sicherlich spielt die Covid-Pandemie eine Rolle. Homeoffice, Frustessen haben das Risiko für Diabetes ansteigen lassen.

Dem gegenüber stehen unsere nicht-wachsenden personellen Ressourcen. Einschnitte bei Men- und Woman-Power in der direkten Versorgung der Patienten und dazu mehr und mehr die Kompensation von Mangelsituationen - das ist die aktuelle Realität.

Grundversorgung sinkt, doch Beratungsaufwand steigt

Etliche Medikamente sind derzeit nicht lieferbar. Die Grundversorgung wird schwieriger. Beispielsweise ist davon das Semaglutid betroffen. Das war ein Game-Changer, der zuletzt einen erheblichen Fortschritt in der Diabetes-Therapie gebracht hat. Zuletzt wurde es gehypt als Mittel zur Gewichtsreduktion. Elon Musk hat zum Beispiel damit abgenommen und darüber getwittert. Es hat einfach einen Supereffekt bei Menschen mit Typ-2-Diabetes - und bei manchen hilft es auch, Gewicht zu verlieren.

Nun trifft dieser Hype leider auf die Tatsache, dass die Lieferketten eingeschränkt sind, was den Mangel zusätzlich verstärkt. Deswegen ist es für mich auch eine spannende Frage, welche Ärzte es eigentlich verschreiben, ohne dass Diabetes vorliegt. Man muss allerdings einschränkend sagen: Es gibt auch eine Zulassung für die Adipositas-Behandlung. Adipositas ist ja eine anerkannte Erkrankung. Eine Alternative ist hier Vegovy – als Selbstzahlerleistung zugelassen, aber ebenfalls in Deutschland nicht verfügbar. Auch so ein Aufreger, der die Diabetes-Gemeinde trifft.

Wir haben nun täglich Patienten in der Praxis, die sagen: Ich bekomme das nicht in meiner Apotheke, ich bekomme es auch nicht in der richtigen Dosis oder von derselben Firma. Und das vertrage ich dann nicht. Was soll ich denn jetzt tun? Wo bekomme ich jetzt mein Medikament? Können Sie mal für mich anrufen, ob ich die passende Packungsgröße bekommen kann? Und so weiter. Das ist viel zusätzlicher Redebedarf. Während wir von der schieren Patientenzahl fast "überrannt" werden, wächst der Beratungsaufwand ständig, besonders auch am Tresen. Als eine zeitlang auch bestimmte Insuline betroffen waren, die in bestimmten Darreichungsformen nicht verfügbar waren, wurde es besonders schlimm. Viele Patienten sind sehr verunsichert. Was passiert mit mir, wenn es kein Insulin mehr gibt? Muss ich dann sterben? Solche Ängste gibt es gar nicht so selten. Dann muss ich beruhigen und die Alternativen mit anderen Insulinen erklären. Alles eine Frage von Zeitaufwand und Nervenkraft, nicht nur bei mir, auch bei den Mitarbeiterinnen. 

Pausenloses Arbeiten ist keine Dauerlösung

Wir sind der Puffer zwischen einer schwieriger werdenden Versorgungsrealität und der wachsenden Zahl von immer besorgteren Patienten, die uns zunehmend aufgeregt und gereizt begegnen. 

Eine von mir geschätzte Kollegin hat es gerade in einem Artikel sehr treffend beschrieben: Die fetten Jahre sind vorbei. Ich plädiere gerade jetzt erst einmal für aufmerksame Selbstfürsorge der Ärztinnen und Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen. Wir machen bei uns viele Teambesprechungen und achten gegenseitig auf uns. Pausenlos zu arbeiten ist auch keine Dauerlösung. Ich achte auf persönliche Auszeiten, habe beispielsweise gerade einen kurzen Klosterurlaub gemacht – damit ich wieder fit und motiviert bin für den verrückten, aber wunderschönen Arbeitsalltag mit unseren Patientinnen und Patienten in der Praxis. 

Dr. med. Iris Dötsch

Dr. med. Iris Dötsch ist Fachärztin für Innere Medizin und Akupunktur mit den Zusatzqualifikationen zur Diabetologin DDG sowie Ernährungsmedizinerin. Dr. Dötsch ist niedergelassen in einer eigenen Diabetologischen Schwerpunktpraxis am Kurfürstendamm in Berlin. Ihre Praxis ist als Diabetologikum DDG anerkannt sowie zertifizierte Fußambulanz nach DDG. Darüber hinaus ist Dr. Dötsch im Vorstand des Bundesverbandes Niedergelassener Diabetologen (BVND) aktiv.